Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein Virus bremst die Migration nach Europa

Als die Corona-Welle die Welt überrollte, machten Staaten überall dicht – Welche Folgen das Virus längerfris­tig auf die Einwanderu­ng haben wird, ist offen

- Von Gioia Forster und Martina Herzog

DAKAR/BERLIN (dpa) - Boubacar Badji träumt von Europa. Der Senegalese wollte sich eigentlich auf die lange und gefährlich­e Reise gen Norden machen – doch dann kam die Corona-Pandemie. „Covid hat alles verzögert, weil ich zwei Monate lang keine Arbeit hatte“, sagt der 33-Jährige. Keine Arbeit bedeutet kein Geld, und eine Bootsüberf­ahrt auf die spanischen Kanaren oder die Reise mithilfe von Schleusern durch die Sahara und weiter nach Europa ist teuer. Doch aufgeben will er seine Pläne, seine Heimat Ziguinchor im Westen Senegals endlich hinter sich zu lassen, nicht. „Es gibt keine richtigen Jobs, wir sind arm“, sagt er. „Hier zu bleiben, ist zu schwer.“

Die Corona-Pandemie, die weltweit Grenzschli­eßungen mit sich gebracht hat, hat vielen hoffnungsv­ollen Migranten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Grenzkontr­ollen wurden verschärft, das öffentlich­e Leben stärker kontrollie­rt und der Flugverkeh­r brach ein. Die Zahlen zeigen es deutlich: Als europäisch­e Länder die Maßnahmen gegen die Pandemie verschärft­en, brachen auch die Anträge von Asylbewerb­ern ein, und zwar zwischen März und Juni. Danach stiegen sie wieder – als die Maßnahmen im Sommer in Europa wieder gelockert wurden.

All das betraf sowohl Migranten, die sich illegal nach Europa durchschlu­gen, als auch Menschen, die mit einem legalen Visum einreisen und dann etwa in Deutschlan­d Asyl beantragen wollten. Auch die Beantragun­g einer Einreiseer­laubnis ist deutlich schwierige­r geworden, weil deutsche Auslandsve­rtretungen ihre Arbeit erheblich zurückgefa­hren haben.

„Auf allen drei Mittelmeer-Routen ist die Zahl der Ankömmling­e in Europa 2020 deutlich gesunken“, sagt Bram Frouws, der Leiter des Recherchei­nstituts Mixed Migration Centre. Er bezieht sich auf die Routen nach Spanien, Italien und Griechenla­nd. Nach Angaben der UNMigratio­nsorganisa­tion (IOM) kamen etwa im Juni nur 3983 Menschen an, im Vergleich zu 9591 im Juni 2019. Zwar ist laut Frouws die Route von Libyen nach Italien in diesem Jahr stärker bereist gewesen als im vergangene­n Jahr, was vor allem mit der steigenden Zahl tunesische­r Migranten zu tun hat. Aber „auf allen Routen gab es einen großen Rückgang an Menschen aus den Ländern südlich der Sahara, die in Europa angekommen sind“.

Der Grund war nicht das Coronaviru­s selbst. „Ich habe keine Angst vor Covid-19 in Europa“, sagt der Senegalese Badji und bring damit zum Ausdruck, was etliche Menschen in Afrika empfinden: Es gibt viel größere Probleme als das Virus, von Armut, mangelnden Jobs und Hunger bis hin zu Konflikten und Krankheite­n wie Malaria. Der Rückgang der Migration lag eher daran, dass die Pandemie das Reisen schlagarti­g erschwerte. Mit den ersten Fällen von

Sars-CoV-2 machten die meisten Staaten Afrikas in Windeseile dicht; der internatio­nale Flugverkeh­r wurde eingestell­t, Grenzen geschlosse­n, die Bewegung innerhalb der Länder beschränkt und nächtliche Ausgangssp­erren verhängt.

Die wirtschaft­lichen Folgen trafen die Migranten womöglich noch härter. Wie Badji verloren Millionen Menschen ihre Jobs. Der 33-Jährige fährt Motorrad-Taxi, doch die Behörden in seiner Heimat suspendier­ten das Geschäft zeitweise, um das Risiko einer Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu verringern, wie er erklärt. Vor allem die Menschen in der informelle­n Wirtschaft, ohne jegliche Absicherun­g, haben gelitten. Wegen der Pandemie wird Afrikas Wirtschaft in diesem Jahr laut der Weltbank um 3,3 Prozent schrumpfen – die erste Rezession seit 25 Jahren.

Und was passiert, wenn sich nach der Corona-Unterbrech­ung der Staub endlich legt? „Für Nigerianer erwarte ich eine riesige Bewegung von Menschen, denn die Pandemie hat in Nigeria so viel Leid und Armut verursacht“, sagt Roland Nwoha, der bei der Organisati­on Idai Renaissanc­e in Benin City die Reintegrat­ion von Rückkehrer­n unterstütz­t. Frouws glaubt, „der Bedarf oder der Wunsch von Menschen auszuwande­rn wird nur wachsen, aber die Optionen auszuwande­rn werden womöglich schrumpfen“. Dies könne zu neuen Dynamiken führen, meint der Niederländ­er. Die meiste Migration ist demnach ohnehin regional, die wenigsten Menschen reisen bis ganz nach Europa – und diese regionale Migration könne künftig ansteigen. „Ich erwarte in den kommenden Jahren weniger Migration in die EU.“

Der Sonderbeau­ftragte des Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR für das zentrale Mittelmeer, Vincent Cochetel, hält eine Prognose für schwierig. Zwar seien viele Migranten, die sich in den Maghreb-Staaten aufhalten, in wirtschaft­liche Nöte geraten. „Das könnte ein Motiv sein, weiterzuzi­ehen nach Europa – oder dafür, in ihre Herkunftsl­änder zurückzuke­hren, wo sie auf mehr Solidaritä­t hoffen können.“Ob der wirtschaft­liche Abschwung in Europa abschrecke­nd wirkt auf mögliche Migranten, die über das Mittelmeer kommen wollen, sei schwer zu sagen: „Die migrantisc­he Diaspora zeichnet gegenüber Freunden und Familie daheim nicht unbedingt ein realistisc­hes Bild.“

Zudem könnten sich Migrations­ströme verschiebe­n. „Wir haben gesehen, dass Grenzschli­eßungen neue Möglichkei­ten schaffen für Schleuser, die dann neue Routen finden“, sagt Cochetel. Laut Damien Jusselme von IOM ist die Zahl der ankommende­n Migranten auf den Kanaren, eine zu Spanien gehörende Inselgrupp­e vor der Küste Marokkos, jüngst deutlich gestiegen. Allerdings warnte Frouws, durch die Reiseeinsc­hränkungen nähmen Schmuggler zunehmend gefährlich­ere Routen. „Das führt zu einem größeren Risiko für die Menschen auf der Reise.“

 ?? OTO: MATTEO FRASCHINI/DPA ?? Der Senegalese Boubacar Badji steht vor seinem Zuhause. Er träumt davon, nach Europa zu gehen.
OTO: MATTEO FRASCHINI/DPA Der Senegalese Boubacar Badji steht vor seinem Zuhause. Er träumt davon, nach Europa zu gehen.

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