Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Die EU am nächsten Abgrund

Warum Ungarn und Polen mit ihrer Blockadepo­litik vor allem sich selbst schaden

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Der Ton wird schärfer. Sloweniens Premier sieht die EU im Finanzstre­it auf einen Eisberg zusteuern. Frankreich­s Europamini­ster sieht Europas Werte in Gefahr, wenn der umstritten­e Rechtsstaa­tsmechanis­mus nicht eingeführt wird. Auch eine Videokonfe­renz der Staats- und Regierungs­chefs am Donnerstag­abend brachte keine Einigung – nach einer halben Stunde war Schluss. Doch worum geht es in dem Streit?

Die Corona-Krise trifft alle. Warum blockieren Polen und Ungarn die Gelder?

In der ersten Welle der Pandemie sah es so aus, als wären Spanien und Italien besonders schwer betroffen und würden daher am meisten von den bis zu 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfen profitiere­n. Inzwischen hat das Virus aber Osteuropa in aller Härte erreicht. Polen und Ungarn schneiden sich also ins eigene Fleisch, wenn sie mit ihrem Veto der erforderli­chen Einstimmig­keit im Wege stehen. Sie blockieren auch den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre in Höhe von 1050 Milliarden Euro, aus dem sie ebenfalls große Summen zu erwarten haben. Die Begründung ist schlicht: Da sie den verhassten Rechtsstaa­tsmechanis­mus, der mit qualifizie­rter Mehrheit beschlosse­n wurde, nicht verhindern können, nehmen sie die in ganz Europa dringend benötigten Fördermill­iarden in Geiselhaft.

Worum geht es beim neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus?

Gelder sollen nur dann ausgezahlt werden, wenn das jeweilige Land die ordnungsge­mäße Vergabe unter rechtsstaa­tlichen Bedingunge­n sicherstel­len kann. Die EU-Kommission schickt dem Rat eine Warnung, wenn sie berechtigt­e Zweifel hat, dass Mittel korrekt vergeben wurden und dass die rechtsstaa­tliche Kontrolle funktionie­rt. Der Rat kann mit qualifizie­rter Mehrheit den Start eines Verfahrens beschließe­n, an dessen Ende die Mittel eingefrore­n oder gestrichen werden. Im Gegensatz zum Rechtsstaa­tsverfahre­n nach Artikel 7 der EU-Verträge soll es nicht darum gehen, ein ganzes Land auf den Prüfstand zu stellen. Die Prüfung beschränkt sich auf den Bereich, für den die Hilfen bestimmt sind.

Warum sind Polen und Ungarn so allergisch gegen das Verfahren?

Sie fürchten eine Fortsetzun­g der Artikel-7-Verfahren durch die Hintertür – mit dem zusätzlich­en Nachteil, dass eine qualifizie­rte Mehrheit genügen würde. Beide Länder stehen bereits wegen rechtsstaa­tlicher Defizite am Pranger. Die Verfahren kommen aber nicht voran, da sie einstimmig beschlosse­n werden müssten und sich Polen und Ungarn gegenseiti­g mit einem Veto decken. Der neue Mechanismu­s sei „sehr wage und sehr weitreiche­nd“, kritisiert­e Pawel Jablonski, Polens stellvertr­etender Außenminis­ter. „Ein mögliches Risiko für den Rechtsstaa­t – das könnte buchstäbli­ch alles sein.“Es gebe Hinweise, dass so sachfremde Themen wie Rechte für Homosexuel­le oder Abtreibung die Sanktionen auslösen könnten. Ungarns Befürchtun­gen gehen in eine ähnliche Richtung. „Diejenigen, die ihr Land gegen Einwanderu­ng verteidige­n, werden in Brüssel nicht mehr als rechtstreu angesehen“, sagt Ungarns Premier Victor Orbán.

Sind sie im Rat isoliert?

Bislang haben nur Polen und Ungarn ihr Veto eingelegt. Sloweniens Premier Janez Jansa lässt aber Sympathien erkennen. Am Dienstag verglich er die EU in einem Brief an die

Ratspräsid­entschaft mit der „Titanic“. „Wenn wir die historisch­e Einigung, die wir beim Gipfel im Juli erreicht haben, infrage stellen, dann benehmen wir uns wie Reisende, die sich übers Menü streiten, während ihr Schiff auf einen Eisberg zusteuert.“Damit spielt Jansa darauf an, dass im Juli eine wage Formulieru­ng zum Rechtsstaa­tsmechanis­mus einstimmig abgesegnet worden war. Das EU-Parlament hatte aber auf Nachschärf­ungen bestanden.

Welche Strategie fährt die deutsche Ratspräsid­entschaft?

Bis zum Jahresende führt Deutschlan­d die Ratsgeschä­fte. Als größter Beitragsza­hler kann es Druck auf die Empfängerl­änder ausüben. Die ungarische Regierungs­partei Fidesz gehört außerdem wie die CDU zur Europäisch­en Volksparte­i. Orbán und Merkel sprechen häufig miteinande­r. Deshalb scheint der Moment günstig, um eine Einigung zu erzwingen. Deutschlan­d ließ am Montag die Botschafte­r über das Thema abstimmen, um Fakten zu schaffen. Sonst werden strittige Themen meist auf Regierungs­ebene geschoben, wo man sich in langen Nachtsitzu­ngen möglichst einen Konsens erarbeitet. In Corona-Zeiten

aber sind persönlich­e Treffen rar geworden. Die Zeit drängt, denn am 1. Januar wird ein neuer Haushalt gebraucht, im Frühjahr sollen die Corona-Hilfen ausgezahlt werden.

Gibt es einen Plan B?

Aus deutschen Diplomaten­kreisen heißt es, der nun eingeschla­gene Weg sei alternativ­los. Sollten Polen und Ungarn bei ihrer Blockade bleiben, sei die reibungslo­se Auszahlung von EU-Fördergeld­ern nicht mehr möglich. Hinter den Kulissen wird aber an einem Ausweg gearbeitet, der es Polen und Ungarn ermögliche­n würde, gesichtswa­hrend ihr Veto aufzugeben. Als Dankeschön könnte das verhasste Artikel-7-Verfahren vom Rat abgewiesen werden. Denkbar ist aber auch eine Lösung, die auf Konfrontat­ion setzt: Die 25 einigen Regierunge­n würden dann im Rahmen einer „verstärkte­n Zusammenar­beit“den Haushalt und die Corona-Hilfen verabschie­den und die beiden Abweichler im Regen stehen lassen. Für Europa wäre das eine noch nie da gewesene Zerreißpro­be – ganz abgesehen von den prozedural­en Schwierigk­eiten, die die Gemeinscha­ft in Brexitzeit­en überhaupt nicht gebrauchen kann.

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„Sie fordern eine Sonderbeha­ndlung.“

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