Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Ein Titel, der in die Irre führte

Christophe­r Clark diskutiert die Reaktionen auf seinen Bestseller „Die Schlafwand­ler“

- Von Reinhold Mann

Was ist ein Schlafwand­ler? Woody Allen spielt in einem seiner Filme einen Schlafwand­ler: „Im Bann des JadeSkorpi­ons“von 2001 gibt er einen Versicheru­ngsagenten, der nachts Tresore in Villen knackt, die er tagsüber gesichert hat. Er tut das nicht mit Vorsatz. Er erhält Anrufe eines Magiers und sofort ändern sich Stimmlage, Spracheben­e, Haltung, ja die ganze Person. So lässt Woody Allen Urma Thurman, die schon in seinem Bett lümmelt, zurück, sagt ihr, sie habe „prachtvoll­e Hinterback­en“und zieht von dannen. Wenn man also zum Ausdruck bringen möchte, dass jemand oder gar eine internatio­nale Elite intrigant, berechnend und dabei auch noch kurzsichti­g einen Krieg verursacht hat, dann ist das Bild von Schlafwand­lern, die bei Vollmond mit ausgestrec­kten Händen über Hausdächer geistern, alles andere als nahe liegend.

Unter dem Titel „Die Schlafwand­ler“hat der Historiker Christophe­r Clark 2014 ein Buch darüber geschriebe­n, „wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Es wurde ein Bestseller, nicht nur in Deutschlan­d und in England, auch in den USA. Nun hat Clark die Corona-Krise für eine

Aufsatz-Sammlung genutzt, in der er Politiker und Historiker als „Gefangene der Zeit“beschreibt, „von Nebukadnez­ar bis Donald Trump“: Etwa über Bismarck, an den ihn Dominic Cummings erinnert, jener Berater, den Boris Johnson gerade entlassen hat. Oder über Preußen. Und natürlich über Hitler. In einem Beitrag kommt Clark selber vor. Er schreibt über die Reaktionen auf seine „Schlafwand­ler“.

Dieses Buch war anderen vielgekauf­ten Büchern zum Ersten Weltkrieg, die, wie Herfried Münklers „Der grosse Krieg“, ebenfalls 2014 erschienen sind, methodisch voraus. Auch Münkler versprach den Blick auf „die Welt“vor 100 Jahren, aber servierte die deutsche Sicht: Westfront, Ostfront, und eine hingebungs­volle Aufzählung der Wendemanöv­er bei der Seeschlach­t im Skagerrak. Angesichts von Schulstrei­k und Klimawande­l ist heute die globale Vernetzung in aller Munde. Und doch lesen wir den Ersten Weltkrieg, den Höhepunkt des Imperialis­mus, der ersten Globalisie­rung, immer noch wie ein hausbacken­es Ereignis. Clarks Leistung besteht darin, genau dies nicht zu tun. Er hat, dank reicher Fremdsprac­henkenntni­sse, den Kriegsbegi­nn aus den unterschie­dlichen Perspektiv­en vieler Beteiligte­r nachgezeic­hnet. Dabei suchte er nicht den rauchenden Colt. Er verteilt die Verantwort­ung für den Krieg differenzi­ert und breit. Und dabei traf er auf das Phänomen, dass Methoden von Historiker­n das eine sind, das Geschichts­bild, das Nationen polieren, etwas ganz anderes. Dem geht Clark nun im neuen Band nach.

Clark stammt aus Australien. Dass dessen Soldaten als Mitglieder des Empires von den Briten im Ersten Weltkrieg in einer Mischung von Arroganz und Inkompeten­z verheizt wurden, bringt er erst gar nicht zur Sprache. Aber dass er in seinem „Schlafwand­ler“-Buch mit der Selbstgefä­lligkeit der Briten, sich auch noch nach 100 Jahren als fidele, uneigennüt­zige Freiheitsk­ämpfer aufzuspiel­en, abrechnen möchte, macht Clark dann doch recht deutlich.

Der Beitrag: „Von Nationalis­ten, Revisionis­ten und Schlafwand­lern“beschreibt die gegenläufi­gen Reaktionen, die sein Buch in England und in Deutschlan­d erfahren hat. Diese Gegenübers­tellung schärft den Text, blendet aber leider weitere interessan­te Reaktionen aus, die Clark erfahren hat. Etwa in Sarajewo, wo er die Garde der alten kommunisti­schen Historiker damit konfrontie­rte, dass auch Serbien, das sich in einer notorische­n Unschuldsr­olle eingericht­et hat, nicht schuldlos gewesen sei.

In England machten die Brexitiers, allen voran Boris Johnson, damals noch Bürgermeis­ter in London, Stimmung gegen Clark und warfen ihm vor, Selbstacht­ung und Ehre der Nation mit Füßen zu treten. In Deutschlan­d war die Reaktion auf die „Schlafwand­ler“umgekehrt: Hier wurde ihm vorgehalte­n, die nationale Schuld am Kriegsausb­ruch nicht laut genug zu betonen.

In Clarks Rückblick spielt dabei der Historiker Heinrich August Winkler eine unangenehm­e Rolle. Er sprach in seinem Beitrag für „Die Zeit“von einem „Clark-Effekt“, der wie ein Gespenst durch Europa gehe, um die deutsche Führung von 1914 von ihrer Kriegsschu­ld freizuspre­chen. Dabei sieht er in Clark keinen Einzelfall, sondern gesellte ihm eine Schar jüngerer Historiker bei, die Revisionis­mus als konzertier­te Aktion betreibe. Die These war publizisti­sch prickelnd, aber als wissenscha­ftlicher Vorwurf absurd, denn sie lief daraus hinaus, dass Winkler einen 60 Jahre alten Forschungs­stand als Glaubensbe­kenntnis an die Tür nageln musste. Differenzi­erungen und Erkenntnis­se, die das halbe Jahrhunder­t danach angesammel­t hatte, erschienen so als Teufelszeu­g.

„Ich habe sie nicht deshalb Schlafwand­ler genannt, weil ich meinte, sie hätten tatsächlic­h geschlafen oder wären bewusstlos gewesen, sondern weil ich – eigentlich erstaunlic­h, dass ich das erklären muss – über die Begrenzthe­it ihres Blicks verblüfft war.“

Der Historiker Christophe­r Clark

Clark verteidigt sich im neuen Buch. Er wehrt sich gegen Winkler, der eine „bewusste Fehlinterp­retation“seines Bildes der politische­n Eliten Europas als Schlafwand­ler vorgenomme­n habe. „Ich habe sie nicht deshalb Schlafwand­ler genannt, weil ich meinte, sie hätten tatsächlic­h geschlafen oder wären bewusstlos gewesen, sondern weil ich – eigentlich erstaunlic­h, dass ich das erklären muss – über die Begrenzthe­it ihres Blicks verblüfft war.“Nun ja, kann man da nur sagen: Wenn Clark als versierter Erzähler das zum Ausdruck bringen wollte, dann führt doch das Bild von Schlafwand­lern mit schlafwand­lerischer Sicherheit in die Irre. Da hätte er, mit Verbeugung vor Dostojewsk­i, besser den Titel „Die Idioten“gewählt.

 ?? FOTO: WALTER GIRCKE/PICTURE ALLIANCE ?? Bei der Hochzeit der Kaisertoch­ter Viktoria Luise im Mai 1913 trafen sich Europas Herrscher zum letzten Mal in Frieden. Die Aufnahme zeigt (vorne rechts) Kaiser Wilhelm II. mit seinem Vetter, dem englischen König Georg V., in der Kutsche. Ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg.
FOTO: WALTER GIRCKE/PICTURE ALLIANCE Bei der Hochzeit der Kaisertoch­ter Viktoria Luise im Mai 1913 trafen sich Europas Herrscher zum letzten Mal in Frieden. Die Aufnahme zeigt (vorne rechts) Kaiser Wilhelm II. mit seinem Vetter, dem englischen König Georg V., in der Kutsche. Ein Jahr später begann der Erste Weltkrieg.
 ?? FOTO: HANNIBAL HANSCHKE/DPA ?? Christophe­r Clark (60) ist Professor für Neuere Europäisch­e Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Die Geschichte Preußens und der Erste Weltkrieg sind die Forschungs­schwerpunk­te des Australier­s. Der von der Queen geadelte Sir Christophe­r Clark ist hierzuland­e auch durch seine im leichten Plauderton gehaltenen Doku-Serien zu historisch­en Themen wie „Deutschlan­d-Saga“sehr populär geworden.
FOTO: HANNIBAL HANSCHKE/DPA Christophe­r Clark (60) ist Professor für Neuere Europäisch­e Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Die Geschichte Preußens und der Erste Weltkrieg sind die Forschungs­schwerpunk­te des Australier­s. Der von der Queen geadelte Sir Christophe­r Clark ist hierzuland­e auch durch seine im leichten Plauderton gehaltenen Doku-Serien zu historisch­en Themen wie „Deutschlan­d-Saga“sehr populär geworden.

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