Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Ganz gute Mischung auf dem Sprung
Für Deutschlands beste Skispringer beginnt ein wohl außergewöhnlicher Winter
OBERSTDORF - Addiert wurde vor der Zeit ausgangs des Winters 2019/20 und ziemlich abrupt. Das Virus! Addiert wurde Erfreuliches: Zwei Weltcup-Siege und einen zweiten Platz mit dem Team, dazu fünf Weltcup-Siege, neun zweite Plätze und drei dritte Ränge in Einzel-Wettkämpfen hatten die Skispringer des Deutschen Skiverbandes (DSV) gesammelt. Plus – Achtung, Ausrufezeichen! – zum erst dritten Mal nach 2002 und 2015 den Sieg in der Nationenwertung. Ein Bundestrainer-Einstand kann unrunder laufen, Stefan Horngacher weiß das. Der Wahlschwarzwälder aus Tirol weiß auch, auf welch breit gestreutes Potenzial, welche Leistungsdichte er bauen kann: „Wenn ich die Qualität der Mannschaft seh’ ...“– ideal verteilt zudem auf hier Jüngere, dort Arrivierte. Eine „ganz gute Mischung“, nein: ein „sehr gutes Team“habe man da auf die Saison vorbereitet, die dieses Wochenende in Polen beginnt. Und doch bleibt das erklärte Ziel für die Auftaktetappen Wisla, Kuusamo und Nizhny Tagil vordergründig unspektakulär. Stefan Horngacher: „Einen besseren Einstieg haben als letztes Jahr, heuer einfach ein bissl besser beginnen.“
Vor zwölf Monaten lieferte Karl Geiger, der so stoisch Stille – später viermal Tagessieger, Vierschanzentournee-Dritter, GesamtweltcupZweiter –, Ergebnisse, ehe irgendwer sie hätte hadernd fordern können. Dem Neuen auf dem Trainerturm kam das zupass. Stefan Horngacher ist kein Lautsprecher; sein Part ist das Gutspringen-Lassen, und das ergibt sich nicht immer von jetzt auf gleich. Mehr und mehr jedoch trugen die klare Idee, die akribische Arbeit, die beharrliche Ruhe des Stefan Horngacher Früchte. Will sagen: „Wir haben uns dann eigentlich relativ schnell und gut sortiert und sind nicht nervös geworden.“
Nervös ist der 51-Jährige auch jetzt nicht. Corona beeinträchtigte die Vorbereitung erstaunlich wenig, der Abbruch der Vorsaison ließ mehr Zeit für mehr Training, vieles ging individuell, bei Lehrgängen griffen die Hygienekonzepte. Gewiss, man habe „nicht unbedingt überall hinfahren können, so, wie wir das genau wollten. Aber alles in allem war es noch so, dass es gut und machbar war“– den Eisspuren der Anlagen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen
(zu seinem Faible für Wisla): „Die Sache an sich verändert sich nie. Wir haben überall einen Balken, einen Radius, den Absprung und dann – das beste Gefühl überhaupt – das Fliegen.“
„Ich hab’ den Sommer über gemerkt, dass wirklich noch mal was vorwärts’gangen ist.“
„Letzte Saison bin ich hin und wieder über das Ziel hinausgeschossen und hab’ überpacet. Dann war der zweite Durchgang nicht so toll, wenn der erste gut war. Da habe ich geschaut, dass ich das in Griff krieg’.“
(zum Comeback nach Kreuzbandriss):„Ich durfte den letzten Wettkampf im März 2019 bestreiten. Nach einem Jahr und acht Monaten wird’s wirklich Zeit.“
sei Dank. Internationale Vergleiche gab es keine (von zwei Continental-Cup-Springen Ende September in – ausgerechnet! – Wisla abgesehen, beide gewann Martin Hamann von der SG Nickelhütte Aue). Deutsche Meisterschaft, teaminterne Wettkämpfe und Trainingseindrücke waren Indikator der aktuellen Form, entschieden über das Dabeisein auf der Adam-Malysz-Schanze. Dort bilden Markus Eisenbichler (TSV Siegsdorf), Karl Geiger (SC 1906 Oberstdorf), Pius Paschke (WSV Kiefersfelden), Constantin Schmid (WSV Oberaudorf), die Rückkehrer Severin Freund (WSV DJK Rastbüchl) und Andreas Wellinger (SC Ruhpolding) sowie, via Continental-Cup-Quote, Martin Hamann die deutsche Weltcup-Mannschaft. Eine „ganz gute Mischung“eben, nein: ein „sehr gutes Team“. Konkreter, Herr Horngacher? „Jeder hat die gleichen Möglichkeiten – und alle auch die gleichen Chancen.“
Auch für Richard Freitag und David Siegel gilt das, die mit Andreas Wellinger den letzten freien Platz im DSV-Septett aussprangen. „Ein ganz enges Rennen“hat der Bundestrainer da gesehen, „die drei springen eigentlich auf gleichem Niveau“. Und die Saison ist lang, sofern Corona sie lang sein lässt, sprich: die von FIS-Renndirektor Sandro Pertile ersonnene Bubble-Logistik Risiken wie erhofft minimiert. Höhepunkte sind früh (10. bis 13. Dezember) die von Mitte März vertagte Skiflug-WM in Planica und, natürlich, die Nordische Weltmeisterschaft 2021 vom 23. Februar bis 7. März in Oberstdorf. Die Frage nach der Motivation stellt sich da kaum.
Eine andere allerdings umso mehr – die nach dem Umgang unter letztlich ja doch konkurrierenden Kollegen. So ein WM-Kader ist etwas Endliches: Voraussichtlich fünf Mann dürfen, sicher doppelt so viele wollen. So eine deutsche Skisprung-Nationalmannschaft ist etwas Besonderes. Erlebt Stefan Horngacher. Eindringlich: „Normalerweise denkt man, wenn man so viele gute Leute hat, dann muss es Grabenkämpfe geben. Gibt’s aber Gott sei Dank nicht. Die Jungs sind untereinander gut befreundet und verstehen sich wirklich gut, das Match wird an der Schanze ausgetragen.“Kurze Pause, kurze Ergänzung: „Wobei da auch wieder jeder dem anderen die Daumen hält.“
So etwas kann tragen. Selbst durch einen so außergewöhnlichen Winter.
18 Uhr: Qualifikation. – 16 Uhr: Team. – 16 Uhr: Einzel. – TV-Liveübertragungen
in ARD (beide Springen) und Eurosport (auch Qualifikation). – Corona-Tests für die Athleten gab es vor dem Weltcup-Auftakt zu Hause und noch einmal an Ort und Stelle in Wisla. Für die folgenden Wettkämpfe setzt der Internationale Skiverband FIS ein Charterflugzeug ein, das die Springer kollektiv von München nach Kuusamo, dann – identisches Transportmittel, identische Reisegruppe – nach Nizhny Tagil und von dort direkt zur Skiflug-WM in Planica bringt. Stefan Horngacher: „Ein gut konzipiertes Prozedere. Da ist die Chance sehr, sehr groß, dass das funktioniert.“