Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Bestie in uns
Moralisch verdammen wir die Gewalt, politisch finden wir sie notwendig, und ästhetisch genießen wir sie sogar
Jahrhundert die Legitimierung von Gewalttechniken und tatsächlicher Gewalt unter dem Banner des Widerstands oder der Selbstverteidigung – etwa von Frauen gegen Vergewaltigungsattacken – oder eben die Black Panther, die die Verteidigung gegen potenzielle Lynchmörder
in eine politische Revolution ummünzen wollten.
Dorlin geht über das historische Terrain hinaus ins Philosophische. Sie möchte die prinzipielle Frage klären: Wem wird welche Möglichkeit von Gewalt zugestanden? Wer darf sich verteidigen?
Dazu greift sie auf zwei der wichtigsten Texte der politischen Philosophie zurück: Der „Leviathan“von Thomas Hobbes und die Essays von John Locke stecken den Rahmen ab, in dem der Staat den Naturzustand der „Gewalt aller gegen alle“, in denen die Menschen einander reißende Wölfe sind, begrenzen darf. Zugleich mit dieser Einhegung der Gewalt und der Verrechtlichung menschlicher Beziehungen begründen diese britischen Philosophen aber auch eine Erlaubnis des Gewaltgebrauchs im Ausnahmefall: Ein Widerstandsrecht, das jedem Einzelnen qua seiner Natur zusteht, und das wiederum die staatliche Gewalt begrenzt. Staatliche Gewalt und Recht sind für beide Denker nämlich keineswegs etwas Natürliches, sondern sie sind eine kulturelle Errungenschaft, die wie alles Menschliche zugleich unter dem Verdacht des Irrtums und der Fehlerhaftigkeit steht. Gewalt bleibt damit im modernen Verfassungsstaat als sein glühender Kern präsent.
Dorlin steht mit diesem offenen Nachdenken in der Tradition einer anderen Philosophin: Hannah Arendt (1906-1975). Es ist interessant, dass es Frauen sind, die über die Gewaltfrage vorurteilsfreier reflektieren als viele Männer, die sich klarer in Lager einordnen lassen: die der Gewaltbefürworter und die der Pazifisten. Hannah Arendt schrieb 1969 unter dem Eindruck des Vietnamkrieges und der weltweiten Studentenunruhen ihren Essay „Macht und Gewalt“. Ihr Ziel ist darin, zwischen diesen beiden politischen Schlüsselbegriffen klar zu unterscheiden. Sie wendet sich damit scharf gegen die traditionelle Theorie, in der Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“und die Gewalt als ultima ratio der Macht gesehen wurde. Arendt wertet zwischen „positiver“Macht und „negativer“Gewalt. Aber ist das mehr als ein Unterschied im Sprachgebrauch? Für Arendt ist Gewalt am Ende ein moralisches Laster, zumindest eine Schwäche der Menschen, selbst wo sie eine ebenso angsterregende wie ansteckende Option menschlichen Handelns bleibt.
Über Gewalt nachzudenken – das bedeutet über ihren Gebrauch zu diskutieren, ihre Ausübung zu begrenzen und entsprechende Ausnahmen festzulegen.
In der Kulturgeschichte wie in der politischen Gegenwart der Gewalt sind die Bändigung der Gewalt und ihre Entfesselung miteinander untrennbar verbunden. Ihre (perverse?) Faszinationskraft wird erhalten bleiben, solange wir sie nicht vergessen können. Wer sie zumindest stärker bändigen möchte, wird daran erinnern müssen, dass Gewalt nie nur – genießende oder auch traurige – Täter kennt, sondern immer auch Opfer. Die genießen nie. Und wenn Gewalt offensichtlich ein Teil der menschlichen Natur ist, dann wird man mit den Surrogaten der Gewaltanwendung leben müssen. Man wird zum Beispiel Sportwettkämpfe als Ersatz für Krieg, Videoballerspiele als Ersatz für Gewaltausübung, brutale Filme und Bücher als voyeuristische Ersatzbefriedigung akzeptieren und begrüßen müssen.
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