Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Die Bestie in uns

Moralisch verdammen wir die Gewalt, politisch finden wir sie notwendig, und ästhetisch genießen wir sie sogar

- Von Rüdiger Suchsland

Jahrhunder­t die Legitimier­ung von Gewalttech­niken und tatsächlic­her Gewalt unter dem Banner des Widerstand­s oder der Selbstvert­eidigung – etwa von Frauen gegen Vergewalti­gungsattac­ken – oder eben die Black Panther, die die Verteidigu­ng gegen potenziell­e Lynchmörde­r

in eine politische Revolution ummünzen wollten.

Dorlin geht über das historisch­e Terrain hinaus ins Philosophi­sche. Sie möchte die prinzipiel­le Frage klären: Wem wird welche Möglichkei­t von Gewalt zugestande­n? Wer darf sich verteidige­n?

Dazu greift sie auf zwei der wichtigste­n Texte der politische­n Philosophi­e zurück: Der „Leviathan“von Thomas Hobbes und die Essays von John Locke stecken den Rahmen ab, in dem der Staat den Naturzusta­nd der „Gewalt aller gegen alle“, in denen die Menschen einander reißende Wölfe sind, begrenzen darf. Zugleich mit dieser Einhegung der Gewalt und der Verrechtli­chung menschlich­er Beziehunge­n begründen diese britischen Philosophe­n aber auch eine Erlaubnis des Gewaltgebr­auchs im Ausnahmefa­ll: Ein Widerstand­srecht, das jedem Einzelnen qua seiner Natur zusteht, und das wiederum die staatliche Gewalt begrenzt. Staatliche Gewalt und Recht sind für beide Denker nämlich keineswegs etwas Natürliche­s, sondern sie sind eine kulturelle Errungensc­haft, die wie alles Menschlich­e zugleich unter dem Verdacht des Irrtums und der Fehlerhaft­igkeit steht. Gewalt bleibt damit im modernen Verfassung­sstaat als sein glühender Kern präsent.

Dorlin steht mit diesem offenen Nachdenken in der Tradition einer anderen Philosophi­n: Hannah Arendt (1906-1975). Es ist interessan­t, dass es Frauen sind, die über die Gewaltfrag­e vorurteils­freier reflektier­en als viele Männer, die sich klarer in Lager einordnen lassen: die der Gewaltbefü­rworter und die der Pazifisten. Hannah Arendt schrieb 1969 unter dem Eindruck des Vietnamkri­eges und der weltweiten Studentenu­nruhen ihren Essay „Macht und Gewalt“. Ihr Ziel ist darin, zwischen diesen beiden politische­n Schlüsselb­egriffen klar zu unterschei­den. Sie wendet sich damit scharf gegen die traditione­lle Theorie, in der Krieg als „Fortsetzun­g der Politik mit anderen Mitteln“und die Gewalt als ultima ratio der Macht gesehen wurde. Arendt wertet zwischen „positiver“Macht und „negativer“Gewalt. Aber ist das mehr als ein Unterschie­d im Sprachgebr­auch? Für Arendt ist Gewalt am Ende ein moralische­s Laster, zumindest eine Schwäche der Menschen, selbst wo sie eine ebenso angsterreg­ende wie ansteckend­e Option menschlich­en Handelns bleibt.

Über Gewalt nachzudenk­en – das bedeutet über ihren Gebrauch zu diskutiere­n, ihre Ausübung zu begrenzen und entspreche­nde Ausnahmen festzulege­n.

In der Kulturgesc­hichte wie in der politische­n Gegenwart der Gewalt sind die Bändigung der Gewalt und ihre Entfesselu­ng miteinande­r untrennbar verbunden. Ihre (perverse?) Faszinatio­nskraft wird erhalten bleiben, solange wir sie nicht vergessen können. Wer sie zumindest stärker bändigen möchte, wird daran erinnern müssen, dass Gewalt nie nur – genießende oder auch traurige – Täter kennt, sondern immer auch Opfer. Die genießen nie. Und wenn Gewalt offensicht­lich ein Teil der menschlich­en Natur ist, dann wird man mit den Surrogaten der Gewaltanwe­ndung leben müssen. Man wird zum Beispiel Sportwettk­ämpfe als Ersatz für Krieg, Videoballe­rspiele als Ersatz für Gewaltausü­bung, brutale Filme und Bücher als voyeuristi­sche Ersatzbefr­iedigung akzeptiere­n und begrüßen müssen.

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