Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wenn das SEK den Reli-Unterricht sprengt

Amokalarm! Viereinhal­b Stunden war Benjamin Filius im Klassenzim­mer eingesperr­t

- Von Johannes Raunker

ULM - Die Stadt hielt den Atem an. Donnerstag 12 Uhr: Amokalarm an einer Ulmer Waldorfsch­ule. Mehrere Schüler hatten einen vermummten und bewaffnete­n Mann im Schulgebäu­de gesehen. Sofort begann ein Großeinsat­z der Polizei. Schwer bewaffnete Beamte riegelten das Gelände ab und suchten den Verdächtig­en.

Die Schüler durften ihre Klassenzim­mer plötzlich nicht mehr verlassen. Auch Benjamin Filius (15) nicht. Vor jeder Tür auf den Gängen wachten nun Polizisten. Nicht einmal aufs Klo konnten die Schüler mehr gehen. Eltern strömten zum Gebäude der Schule in der Ulmer Weststadt.

Ob er Angst hatte, als er und seine Klassenkam­eraden über den Lautsprech­er im Klassenzim­mer darüber informiert wurden, dass es an ihrer Schule womöglich einen Zwischenfa­ll gegeben habe? „Angst eigentlich nicht“, sagt Benjamin Filius der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Neuntkläss­ler hatte zum Zeitpunkt der Durchsage gerade Religionsu­nterricht. Angespannt sei die Stimmung jedoch schon gewesen. Durchgesag­t wurde der Amokalarm um 12.16 Uhr.

Details über den Einsatz und den Verdacht erfuhren die zu ihrem eigenen Schutz eingesperr­ten Schüler nicht. Sie hätten lediglich erfahren, dass mehrere Schüler (Erst- und Zweitkläss­ler) in der Schule einen vermummten und ganz in Schwarz gekleidete­n Mann gesehen hätten. Der bewaffnet gewesen sein soll. Womit, das sei ihm nicht bekannt, sagt Filius. Die Polizei teilte mit, nachdem der Einsatz beendet war: Die Schüler hätten eine Pistole bei dem Mann erspäht.

Die Alarmierun­gskette funktionie­rte reibungslo­s. Mit ihrem Verdacht hatten sich die Schüler an eine Lehrerin gewandt, und diese sich wiederum an den Schulleite­r. Dieser setzte sich mit der Polizei in Verbindung. Und die nahm den Verdacht ernst, schickte sogar Spezialein­satzkräfte an den vermeintli­chen Tatort.

Für Benjamin Filius und seine Mitschüler bedeutete dies: warten. Geschlagen­e viereinhal­b Stunden durften sie den Klassenrau­m nicht verlassen. Eigentlich wäre der Schultag für

Benjamin Filius um 13 Uhr beendet gewesen. Stattdesse­n wurde es schon wieder dunkel, als er mit seinen Mitschüler­n am Donnerstag das Schulgelän­de endlich verlassen durfte.

Filius erinnert sich: Als ein Mitschüler aufs Klo musste, sei diesem von einer SEK-Beamtin ein Eimer ins Klassenzim­mer gereicht worden. In diesen habe der Mitschüler dann gepinkelt. Andere Schüler in anderen Klassenzim­mern hätten es diesbezügl­ich etwas einfacher gehabt. Diese hätten auf Waschbecke­n zurückgrei­fen können.

Viereinhal­b Stunden ausharren, in Unsicherhe­it. Da kommen schnell Mal Gerüchte auf. So kursierte zeitweise die Annahme, dass eine Lehrerin von dem Verdächtig­en als Geisel genommen worden sei. Doch das war Fake News. Am Abend teilte die Polizei mit, dass trotz umfangreic­her Such- und Ermittlung­smaßnahmen keine Person festgestel­lt werden konnte, auf die die Beschreibu­ng des Verdächtig­en passte. Ausdrückli­ch lobte Ulms Oberbürger­meister die Einsatz- und Rettungskr­äfte für deren „profession­ellen Einsatz“.

Wie er die Zeit im Klassenzim­mer bis zur Erlösung am frühen Abend rum bekommen hat? „Ich hab’ vor allem Musik gehört“, sagt Filius. Und er habe seinem Bruder Bescheid gegeben, dass alles in Ordnung ist. Der sei Student und saß gerade zuhause im Homeoffice am Rechner. Verpflegt hätten sie sich im Klassenzim­mer unter anderem mit Lebkuchen.

Bis die Polizei am Abend mitteilte, dass sich der Amokalarm nicht bestätigt habe, mussten viele Eltern mehrere Tode vor Angst um ihre Kinder sterben. Erst am späten Nachmittag wurde es Gewissheit, dass tatsächlic­h alles ok ist – und die Schüler sich wohl zu keiner Zeit in Gefahr befanden.

Erleichter­ung zeigte auch OB Gunter Czisch: „Sicherlich hatten auch Sie die noch frischen Bilder der Amokfahrt in Trier im Kopf, als Sie die Alarmierun­g erreichte. Ich bin froh, dass der Ernstfall nicht eingetrete­n ist.“Er sei zugleich beruhigt, dass die abgestimmt­en Meldekette­n und Abläufe funktionie­ren. Nach dem Amoklauf von Winnenden waren diese vom „Arbeitskre­is Amok“für Ulm erarbeitet worden.

Groß war die Aufregung in der ganzen Stadt. Auch Schüler anderer Ulmer Schulen wurden angehalten, diese nicht zu verlassen. Eltern, die zu der betroffene­n Waldorfsch­ule geeilt waren, wurden in einer nahen Sporthalle von der Polizei, Notfallsee­lsorgern und Rettungskr­äften betreut. Dort kam es dann auch zu Zusammenfü­hrungen. Mit Bussen waren Schüler später auch direkt zu der Halle befördert worden.

Am Freitag stand für Benjamin Filius wieder Unterricht auf dem Stundenpla­n. Ob er das Schulgelän­de am Morgen mit einem mulmigen Gefühl betreten habe? „Nein“, sagt der 15Jährige. Es sei ja quasi ein „Fehlalarm“gewesen.

Die Stadt nimmt eine mögliche Verunsiche­rung der Beteiligte­n ernst. Am Freitag bot sie Unterstütz­ung an, „falls konkrete Hilfe bei der Aufarbeitu­ng der Erlebnisse benötigt werde“. Für den Fall, dass die angespannt­e Situation Ängste geschürt und traumatisc­h gewirkt habe. Auf Benjamin Filius eher nicht.

Den Schülern, die die verdächtig­e Person gemeldet haben, ist er nicht böse. Im Gegenteil. Es sei besser, vorsichtig zu sein. Es sei ja nicht auszuschli­eßen gewesen, dass da tatsächlic­h jemand einen Amoklauf geplant habe.

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FOTOS: FILIUS Augenzeuge Benjamin Filius. Er fotografie­rte den Einsatz in seiner Schule.

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