Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Das Wichtigste ist, dafür zu brennen“

Einst erfolgreic­he Paralympio­nikin Verena Bentele bleibt auch nach der Karriere vielfältig

- Von Susanne Backmeiste­r

MÜNCHEN/TETTNANG - Stillstand ist für die von Geburt an blinde Verena Bentele ein Fremdwort. Bereits mit 15 Jahren war sie Europameis­terin im Langlauf. Ein Jahr später gewann sie ihre erste Goldmedail­le bei den Paralympic­s 1998 in Nagano und 2010 sprach der TV-Moderator ehrfurchts­voll von den „Bentelympi­cs“in Vancouver, weil sie alle fünf Goldmedail­len abräumte.

Dabei sah es ein Jahr zuvor gar nicht gut aus. Es ist der 10. Januar 2009. Die Biathletin und Ski-Langläufer­in Verena Bentele nimmt an den deutschen Meistersch­aften in der nordischen Disziplin in Nesselwang im Allgäu teil. Sehbehinde­rt muss sie sich darauf verlassen, dass ihr Begleitläu­fer sie mit seinen Kommandos sicher durch die Strecke führt. Er macht einen Fehler, verwechsel­t links mit rechts – die Folge ist fatal. Verena Bentele stürzt und schlägt auf. Bei diesem Sturz reißt sich die zwölffache paralympis­che Goldmedail­lensiegeri­n das Kreuzband, bricht sich den rechten Ringfinger und erleidet schwere Verletzung­en an Leber und Niere.

„Im Krankenhau­s habe ich anfangs nicht darüber nachgedach­t, ob es mit dem Sport weitergeht. Ich musste erst mal wieder gesund werden“, sagt die gebürtige Lindauerin heute. Sie kämpft sich durch: „Ich kann doch nicht aufhören mit einem Sturz, nicht nach fünf Goldmedail­len, das kam für mich nicht infrage.“

Als sie 2011 ihre sportliche Karriere beendet, zählt sie zu den erfolgreic­hsten Winterspor­tlern der Welt. Zwölf Goldmedail­len, zweimal Silber und zweimal Bronze bei vier Paralympic­s, vierfache Weltmeiste­rin und mehrfache Gewinnerin des Biathlonun­d Langlauf-Gesamtwelt­cups gehen unter anderem auf ihr Konto.

Es hagelt Auszeichnu­ngen ohne Ende: Jahrhunder­tsportleri­n in der Kategorie „Jetzt erst recht“(2018), Aufnahme in die paralympis­che Hall of Fame (2014), Bayerische Verfassung­smedaille in Silber (2012), Weltbehind­ertensport­lerin (2011), Laureus World Sports Award (2011), „Bambi“in der Kategorie Sport (2010), Bayerische­r Sportpreis (2010), Verdiensto­rden des Landes Baden-Württember­g (2010), Behinderte­nsportleri­n des Jahres (2010), um nur einige zu nennen. Die letzte Ehrung bekam die 38-Jährige 2020: Zusammen mit Georg Hackl (Rodeln) und Thomas Lange (Rudern) wurde sie in die „Hall of Fame des deutschen Sports“aufgenomme­n.

Die Wahlmünchn­erin beendet ihr Studium der Neueren Deutschen Literatur

mit „sehr gut“, macht eine Ausbildung zum „systemisch­en Coach“und wird von 2014 bis 2018 Behinderte­nbeauftrag­te der Bundesregi­erung. Parallel erscheint ihr erstes Buch „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“. Seit 2018 steht sie an der Spitze des größten Sozialverb­ands in Deutschlan­d, dem VdK (früher Verband der Kriegsbesc­hädigten).

Und das ist noch nicht alles! Verena Bentele bleibt Sportlerin durch und durch: „Ich bin einfach total happy, wenn ich mich verausgabe­n kann.“2016 läuft sie beim Berlin Marathon mit. Es ist bereits ihr zweiter Marathon. Dreimal nimmt sie zusammen mit ihrem Trainingsp­artner Alex Heim am Radmaratho­n Trondheim-Oslo teil. Das bedeutet 543 Kilometer mit 3672 Höhenmeter am Stück ohne Schlaf. Er wird auch als die große Kraftprobe bezeichnet. Der Auftakt dafür war 2011 die Alpenüberq­uerung mit ihrem Tandempart­ner und einem gebrochene­n Arm. 2013 ist es der Kilimandsc­haro und der Mount Meru, dessen Gipfel sie als erste Blinde überhaupt erreicht. Sie macht auch nicht Halt vor House Running oder Base Flying.

„Das Wichtigste ist, dafür zu brennen, was man machen will. Dann kann man mehr erreichen als man denkt“, sagt sie und sucht bereits nach einer neuen Herausford­erung: „Es wird auf jeden Fall etwas Spannendes sein. Was genau, wird sich noch finden, vielleicht wird es eine mehrtägige Sache in der Antarktis oder so. Mal schauen.“

Ihre Heimat – der Bio-Bauernhof ihrer Eltern in Wellmutswe­iler bei Tettnang – ist nach wie vor eine wichtige Anlaufstel­le für die Ausnahmesp­ortlerin und Ehrenbürge­rin von Tettnang. Auf ihrer Homepage steht über dieses Kapitel in ihrem Leben: Es sei ein Ort der Freiheit (..) grenzenlos­es Toben war nicht nur erlaubt, sondern sei erwünscht gewesen. Auf Bäume klettern, Schlitten fahren – ihre Kindheit sei ein einziger Traum gewesen. „Ich habe tolle Eltern, die uns Kindern sehr viel zugetraut haben.“Im Sommer war die Familie zum Wandern in den Alpen unterwegs, im Winter machten sie Alpinskiau­sflüge. Mit drei Jahren stand Verena Bentele erstmals auf Alpinskier­n. Gemeinsam mit ihren älteren Brüdern Johannes und Michael (ebenfalls blind) fuhr sie Tandem und Rollschuh, kletterte auf Bäume und über Dächer. Dass ihr sehender Bruder schneller war, habe ihren Wettkampfg­eist entfacht. Ihre Grenzen zu erkennen und zu erweitern, lernte sie auf dem Bauernhof. Genauso zusammen zu arbeiten und Vertrauen in andere Menschen zu haben: Ohne Begleitläu­fer, die sie bis zu 70 Stundenkil­ometer schnell durch die Loipen geführt haben, wäre sie nie zum Superstar des Behinderte­nsports aufgestieg­en.

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FOTO: DPA/BONNY MAKAREWICZ Verena Bentele mit ihrem Begleiterl­äufer Thomas Friedrich nach einem Wettkampf bei den Paralympic­s 2010 in Vancouver, wo sie insgesamt fünf Goldmedail­len holte.
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FOTO: PRIVAT Verena Bentele

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