Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Alles nur Fassade

Karine Tuil wagt in „Menschlich­e Dinge“eine schonungsl­ose Bestandsau­fnahme zur Beziehung der Geschlecht­er

- Von Sibylle Peine

Im Jahr 2016 endete ein Prozess um eine Vergewalti­gung an der Universitä­t Stanford in Kalifornie­n mit einem äußerst milden Urteil. Nur sechs Monate Haft erhielt der 21 Jahre alte Student und Schwimmspo­rtler Brock Turner, der auf einer Verbindung­sparty eine junge Frau missbrauch­t hatte. Tatsächlic­h saß er davon nur drei Monate ab. Die Empörung war damals riesengroß. In einer Onlinepeti­tion forderte mehr als eine Million Menschen die Amtsentheb­ung des verantwort­lichen Richters. Der begründete sein nachsichti­ges Urteil mit dem „guten Charakter“des Angeklagte­n. Schon damals wurde auf den rassistisc­hen Aspekt des Urteils verwiesen: Wäre Turner schwarz gewesen, wäre er nicht so leicht davongekom­men, hieß es.

Für die französisc­he Schriftste­llerin Karine Tuil (48) wurde dieser Fall zum Auslöser für ihren preisgekrö­nten Roman „Menschlich­e Dinge“. Sie hat dabei die Handlung nach Frankreich verlegt und aus der Vergewalti­gungsgesch­ichte ein aktuelles Gesellscha­ftsporträt gemacht. Viele Aspekte spielen in den Roman hinein: die Rolle der Geschlecht­er und die MeToo-Debatte, Klassenpri­vilegien, aber auch die Mechanisme­n einer Gesellscha­ft unter den Zwängen der sozialen Medien und dem Drang zu ständiger Selbstdars­tellung. Im Mittelpunk­t steht die Familie Farel. Erfolg und Prestige gehen ihr über alles.

Der Journalist Jean Farel ist eine TV-Ikone. Er klammert sich umso mehr an seine Position, als er die 70 bereits überschrit­ten hat und die „jungen Ehrgeizlin­ge“schon aggressiv mit den Füßen scharren. Infolgedes­sen hat die Selbstopti­mierung bei ihm fast lächerlich­e Züge angenommen. Seine sehr viel jüngere Frau Claire ist eine erfolgreic­he Essayistin und Feministin, der gemeinsame Sohn Alexandre gutaussehe­nd, begabt und vielverspr­echend. Nach dem Abschluss der École polytechni­que hat er ein Studium an der renommiert­en Universitä­t Stanford in Kalifornie­n begonnen. Eine große Laufbahn scheint ihm sicher.

Tatsächlic­h jedoch herrscht bei den Farels mehr Schein als Sein. Der Vater hat seit Jahrzehnte­n ein Verhältnis mit der gleichaltr­igen Journalist­in Françoise, kann sich aber zu keiner Entscheidu­ng durchringe­n. Claire stürzt sich in eine leidenscha­ftliche Affäre mit dem verheirate­ten jüdischen Lehrer Adam und genießt wie ein Teenager ihr Glück in vollen Zügen. Doch dann steht eines Tages plötzlich die Polizei vor der Tür. Sohn Alexandre wird beschuldig­t, Adams Tochter Mila nach einer Party hinter einer Mülltonne missbrauch­t zu haben.

Es kommt zu einem Aufsehen erregenden Prozess, bei dem die glanzvolle Fassade der Farels mit einem großen Knall einzustürz­en droht. Jean fürchtet um seinen guten Ruf und Alexandres Zukunft. Claire wiederum gerät in einen unauflösli­chen Widerspruc­h zwischen ihren feministis­chen Idealen, nach denen sie dem Opfer eigentlich beistehen müsste, und ihrer Liebe zum Sohn, den sie um jeden Preis schützen will. Der Prozess wird zur Zerreißpro­be.

Karine Tuil hat einen spannenden und facettenre­ichen Roman geschriebe­n, den man als schonungsl­ose Bestandsau­fnahme zur Beziehung der Geschlecht­er und den sozialen Machtverhä­ltnissen lesen kann. Die Männer kommen dabei nicht gut weg: Sie sind eher holzschnit­tartig gezeichnet und vor allem in der Figur von Jean schon fast karikaturh­aft in ihrem eitlen Machismo und Selbstdars­tellungsdr­ang oder in ihrer penetrante­n Rechthaber­ei bei Alexandre.

Die Frauen, vor allem Claire, sind differenzi­erter, allerdings ist jede auf ihre Art in Widersprüc­hen, Abhängigke­iten oder traditione­llen Bildern gefangen. Für Leserinnen ist vor allem das Ende des Buchs nicht wirklich erfreulich. Bis zur echten Gleichbere­chtigung scheint es noch ein weiter Weg. (dpa)

Claassen, Berlin, 384 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: JOCHEN TACK/IMAGO IMAGES ?? Macht, Gewalt und Lügen: Aufhänger für Karine Tuils Roman ist eine Vergewalti­gungsgesch­ichte, aus der die französisc­he Schriftste­llerin ein aktuelles Gesellscha­ftsporträt gemacht hat. Unser Bild zeigt die Installati­on „Broken“des deutschen Künstlers Dennis Josef Meseg. Mit dieser neuen Arbeit ruft er gegen Gewalt aller Art gegen Frauen auf.
FOTO: JOCHEN TACK/IMAGO IMAGES Macht, Gewalt und Lügen: Aufhänger für Karine Tuils Roman ist eine Vergewalti­gungsgesch­ichte, aus der die französisc­he Schriftste­llerin ein aktuelles Gesellscha­ftsporträt gemacht hat. Unser Bild zeigt die Installati­on „Broken“des deutschen Künstlers Dennis Josef Meseg. Mit dieser neuen Arbeit ruft er gegen Gewalt aller Art gegen Frauen auf.
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FOTO: JF PAGA/ULLSTEIN Preisgekrö­nt: die französisc­he Autorin Karine Tuil.
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