Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Das Kapitol als Kampfzone

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Drei Stunden und 32 Minuten nach Mitternach­t ist es endlich vorbei. Vom Podium des Senats fragt Mike Pence, kraft seines Amtes als Vizepräsid­ent der Chef der Kammer, ob jemand Einwände habe, wenn man nun die Stimmen der Wahlleute Vermonts beglaubige. Da es nach dem Alphabet geht, ist der kleine Neuengland-Staat spät an der Reihe. Einwände gibt es keine, die drei Elektoren zählen für Joe Biden, so wie es die Wähler Vermonts am 3. November entschiede­n hatten. Damit überschrei­tet der Sieger des Votums auch bei der Prozedur im Kongress, die eigentlich reine Formsache ist, die Schwelle von 270 Stimmen. Was die Mehrheit bedeutet, endgültig und nicht mehr anzufechte­n. Anschließe­nd liest Pence die Formel vom Blatt, mit der amerikanis­che Vizepräsid­enten seit jeher alle vier Jahre, nach feierliche­r Sitzung des Parlaments, die Wahl des neuen Staatschef­s bestätigen. Sinngemäß sagt er, dass er Biden nunmehr als rechtmäßig bestimmten Präsidente­n bezeichnen könne. Es ist der letzte Akt eines Dramas, das den Kongress auf Capitol Hill stundenlan­g im Chaos versinken ließ.

Am frühen Mittwochna­chmittag hatten Anhänger Donald Trumps nicht nur die Freitreppe vor dem Kapitol gestürmt und eine völlig überforder­te Parlaments­polizei denkbar schlecht aussehen lassen, sondern sich auch Zugang zu dem Gebäude verschafft. Gegen 14.10 Uhr Ortszeit splittert Glas. Ein Mann, bewaffnet mit einem Plastiksch­ild, schlägt im Parterre ein Fenster ein. Die Ersten, die durch das Fenster klettern, öffnen von innen die Türen, sodass Hunderte folgen können.

Nach Darstellun­g der Polizei gibt ein Beamter, der die Eindringli­nge an einer Glastür zu stoppen versucht, einen Schuss ab. Er trifft eine Frau, die bald darauf im Krankenhau­s für tot erklärt wird. Wie deren Ex-Mann mitteilt, handelt es sich um Ashli Babbitt, 35 Jahre alt, eine Veteranin der Luftwaffe aus dem kalifornis­chen San Diego. Babbitt sei sowohl in Afghanista­n als auch im Irak im Einsatz gewesen.

Die Bilder, die an diesem Nachmittag des 6. Januar um die Welt gehen, lassen die demokratis­che Abgeordnet­e Abigail Spanberger von einem Totalversa­gen sprechen. „So etwas erlebt man nur in gescheiter­ten Staaten“, wettert sie. „Das ist es, was zum Tod der Demokratie

führt.“Manche in den Reihen des Mobs benehmen sich wie Eroberer, die eine feindliche Festung eingenomme­n haben, etwa der Hüne mit entblößtem, stark behaartem Oberkörper und einer Fellmütze samt Hörnern, der sich in Triumph-Pose fotografie­ren lässt. Andere spazieren wie Touristen durch die prächtigen Hallen mit ihrem Marmor und ihren Denkmälern, nur dass sie Fahnen mit der Aufschrift „Trump 2020“tragen, einige auch die Flagge der im Bürgerkrie­g besiegten Südstaaten. Einer setzt sich grinsend in den Sessel von Nancy Pelosi, der Chefin des Repräsenta­ntenhauses. Ein anderer erbeutet ein wappengesc­hmücktes Rednerpult und trägt es wie eine Trophäe davon. Schreibtis­che werden durchwühlt, Büroräume verwüstet.

Paul Kane, ein Reporter der „Washington Post“, schildert aus seiner Perspektiv­e, von der Pressetrib­üne des Senatssaal­s, wie die Attackiert­en die Attacke erlebten. Gegen 14.30 Uhr habe die Polizei alle zum Verlassen der Kammer aufgeforde­rt. Dann seien sie, Senatoren, deren Assistente­n sowie Journalist­en, zu Fahrstühle­n geführt worden, in denen sie ins Kellergesc­hoss fuhren. Durch einen Tunnel habe die Gruppe das Russell Senate Office Building erreicht, eines der Bürogebäud­e rings ums Kapitol. Man habe nach Anleitunge­n für den Notfall gehandelt, wie sie nach dem 11. September 2001 geschriebe­n wurden, fügt Kane noch hinzu. Der Mitarbeite­r eines Senators, der die Evakuierun­g verpasst hatte und im Haupttrakt geblieben war, verbarrika­dierte die Tür seines Zimmers mit einer Eisenstang­e. Minutenlan­g, erzählt er später, hätten Eindringli­nge versucht, die Tür aufzubrech­en, zum Glück ohne Erfolg.

Wie es so weit kommen konnte, wird mit Sicherheit bald eine Untersuchu­ngskommiss­ion beschäftig­en. Normalerwe­ise sind schon die Treppen vor dem Kapitol für Demonstran­ten tabu, und wer sich unbefugt Zugang zum Inneren verschafft, muss mit sofortiger Festnahme rechnen. Nun aber kursieren in sozialen Medien Aufnahmen, die das Gefühl vermitteln, dass Polizisten, statt resolut einzugreif­en, eher zuschauten, einige womöglich wohlwollen­d. Ein Foto zeigt einen Beamten, der ein Selfie von sich und einem der Provokateu­re macht. Ein Video dokumentie­rt, wie Uniformier­te Metallzäun­e aus dem Weg räumen. Mag sein, dass eine überrumpel­te Polizeitru­ppe, deren Kommandeur­e das Gefahrenpo­tenzial sträflich unterschät­zten, zu deeskalier­en versuchte. Kim Dine, von 2012 bis 2016 Chef der Capitol Police, kann sich die Unterlassu­ngssünden dennoch nicht erklären. „Es war, als würde man sich einen Horrorfilm anschauen“, sagt er in einem Interview. „Wir trainieren doch täglich dafür, dass so etwas nicht passiert.“Auf alle Fälle sei es ein schwerer Fehler gewesen, diese Leute überhaupt so nah ans Kapitol heranzulas­sen.

DeRay McKesson, einer der Sprecher der Bewegung „Black Lives Matter“, sieht in Stereotype­n in den Köpfen mancher Polizisten einen der Gründe für das Desaster. Hätten anstelle der überwiegen­d weißen Anhänger Trumps Menschen mit dunkler Haut das Gebäude gestürmt, hätten sie nicht mit Nachsicht rechnen können, glaubt er. „Diese Leute saßen auf dem Schreibtis­ch der Parlaments­präsidenti­n! Schwarze und braune Menschen hätten es nicht mal bis zur ersten Türschwell­e geschafft.“

Auch Benjamin Crump, ein Anwalt, der seit Jahren Opfer exzessiver Polizeigew­alt vertritt, spricht von Doppelmora­l. „Hätten Schwarze getan, was diese weißen Terroriste­n getan haben, können Sie sich die Reaktion vorstellen? Man hätte alles eingesetzt, Tränengas, Pfefferspr­ay, alles, und zwar massiv.“

Als die Politiker nach fast sechsstünd­iger Zwangspaus­e zurückkehr­en, lässt die Tatsache, dass sie von Bewaffnete­n eskortiert werden, an ein Land denken, in dem gerade ein Putschvers­uch niedergesc­hlagen worden ist. Mitt Romney meldet sich zu dem Zeitpunkt mit Anmerkunge­n zu Wort, die an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig lassen. Was geschehen sei an diesem Tag, sei auf den verletzten Stolz eines selbstsüch­tigen Mannes zurückzufü­hren, schimpft der Senator aus Utah. Donald Trump habe die Wut seiner Anhänger geschürt, indem er sie zwei Monate lang wissentlic­h falsch informiert­e. „Was heute passiert ist, war eine Revolte, angezettel­t vom Präsidente­n der Vereinigte­n Staaten.“

Und Mike Pence, der Mann im zweithöchs­ten Staatsamt, der Trump vier Jahre lang mit einer bisweilen an Selbstverl­eugnung grenzenden Loyalität gedient hatte, hält eine Zwei-Minuten-Rede, in der von serviler Beflissenh­eit nichts mehr zu spüren ist. Dies sei ein schwarzer Tag in der Geschichte des Kapitols gewesen, beginnt er, um für ungewohnt kämpferisc­he Sätze folgen zu lassen. „An jene, die heute in unserem Kapitol Chaos stiften: Ihr habt nicht gewonnen. Die Gewalt gewinnt nie. Die Freiheit gewinnt. Und das ist immer noch das Haus des Volkes.“

Nachdenkli­che Tweets von Brendan Boyle, einem Demokraten aus Philadelph­ia, der seit 2015 im Kongress sitzt, lassen ahnen, wie tief der Schock sitzt. „Ich hatte immer angenommen, unsere Demokratie würde alles aushalten“, schreibt Boyle. Doch nach dem Überfall des Mobs und der Weigerung einiger republikan­ischer Kollegen, Bidens Sieg anzuerkenn­en, falle es ihm schwer zu beurteilen, ob die Sonne gerade auf- oder untergehe über der amerikanis­chen Demokratie.

Kelly Loeffler, die Senatorin aus Georgia, die am Dienstag abgewählt wurde, obwohl oder gerade weil Trump die Trommel für sie gerührt hatte, gibt einen Sinneswand­el zu Protokoll. Noch am Morgen, erklärt sie, habe sie die Absicht gehabt, gegen die Bestätigun­g des BidenSiegs zu stimmen. Das könne sie nun nicht mehr guten Gewissens tun. Im Senat sind es zum Schluss noch sieben Konservati­ve, angeführt vom Texaner Ted Cruz, die sich gegen die Zertifizie­rung des Wahlergebn­isses stemmten. Die meisten Republikan­er waren Mitch McConnell, dem Mehrheitsf­ührer der Kammer, gefolgt, der gleich zum Auftakt der Debatte eine starke Rede gehalten hatte. Sollte die Legislativ­e das Urteil der Wähler kippen, warnte der Veteran aus Kentucky, werde sie der Republik dauerhafte­n Schaden zufügen. Dann würde die Demokratie auf eine Todesspira­le zusteuern, „wir würden nie wieder erleben, dass die Nation als Ganzes das Ergebnis einer Wahl akzeptiert“.

Dies sei ein Moment großer Ehrlosigke­it und eine „Schande für unsere Nation“, fasst Trumps Vorgänger Barack Obama das Kapitel zusammen. Die Gewalt sei vom amtierende­n Präsidente­n angestifte­t worden, mit Fantasie-Erzählunge­n, die sich immer weiter von der Realität entfernt hätten. Man würde sich allerdings etwas vormachen, wenn man so tue, als wäre dies eine totale Überraschu­ng.

Es war Trump, der am Mittwochvo­rmittag auf einer Kundgebung in der Nähe des Weißen Hauses Öl ins Feuer gegossen hatte. Noch bevor beide Kammern des Kongresses zusammentr­aten, um das Ergebnis des Votums am 3. November zu beglaubige­n, schürte er den Zorn seiner Fans. „Wir werden sehr viel härter kämpfen müssen“, sagte er und rief dazu auf, zum Kapitol zu marschiere­n, „um unsere Demokratie zu retten“. Zugleich nahm er seinen Stellvertr­eter ins Visier, jenen Mike Pence, der bis dahin nie auch nur den leisesten Widerspruc­h wagte. „Mike Pence muss sich heute für uns einsetzen, und wenn er es nicht tut, dann ist das ein trauriger Tag für unser Land.“

Wie von der Verfassung vorgeschri­eben, hatte der Vizepräsid­ent die Parlaments­sitzung zu leiten, die endgültig absegnen sollte, was die fünfzig Bundesstaa­ten und der Hauptstadt­bezirk District of Columbia bereits Mitte Dezember zertifizie­rt hatten: den Wahlsieg Joe Bidens. Hätte er getan, was Trump von ihm verlangte, nämlich das Resultat auszuhebel­n, hätte er sich eines eklatanten Rechtsbruc­hs schuldig gemacht. Zudem war von vornherein klar, dass jene konservati­ven Volksvertr­eter, die das Resultat des Votums noch immer infrage stellen, ihren Protest eher für die Galerie inszeniere­n würden, ohne praktische Konsequenz­en.

Am Mittwochmi­ttag hatte es begonnen, das Prozedere, das normalerwe­ise ohne Zwischenfä­lle über die Bühne geht. Schon kurz, nachdem einer der Rebellen das Resultat in Arizona angefochte­n und die Debatte darüber gerade begonnen hatte, getrennt in beiden Häusern, sahen sich Senat und Repräsenta­ntenhaus gezwungen, ihre Sitzungen zu unterbrech­en.

Der Mann, der das Chaos zu verantwort­en hat, brauchte skandalös lange, um seine Fans zur Ordnung zu rufen. Erst nach Stunden akuter Verunsiche­rung meldete sich Donald Trump per Video zu Wort. „Geht nach Hause, wir lieben euch, ihr seid etwas ganz Besonderes“, sagt er, bevor er einmal mehr, diesmal in einem Tweet, das Märchen vom massiven Wahlbetrug wiederholt. So etwas passiere eben, behauptet der Präsident, wenn großen Patrioten auf derart gemeine Weise ein „geheiligte­r“Erdrutschs­ieg genommen werde. „Geht in Frieden und Liebe nach Hause. Erinnert euch für immer an diesen Tag!“

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FOTO: LEV RADIN/IMAGO IMAGES

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