Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wipfel des Widerstand­s

- Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Das Klima meint es in diesen Tagen nicht gut mit Samuel Bosch. Es ist kalt, saukalt sogar. Vor allem in etwa zehn Meter Höhe, wo der 17-jährige Schüler und seine Mitstreite­r in einer alten Eiche ein Baumlager errichtet haben. In dem sie im Wechsel ausharren, bei Tag und bei Nacht. Unter einer Plastikpla­ne und auf befestigte­n Europalett­en, bei Autolärm von der viel befahrenen Karlstraße, bei Minusgrade­n und Schneeverw­ehungen. Ein Lockdown der ganz eigenen Art.

Dass es bei der eisigen Aktion um die Erderwärmu­ng geht, ist eine zufällige Ironie. Den jungen Leuten ist es nämlich bittererns­t: „Wir fordern, dass sich Deutschlan­d an das Pariser Klimaabkom­men hält.“Die Verantwort­ung sei dabei besonders groß, betonen die Aktivisten. „Wir nehmen nämlich auf der Weltrangli­ste der Klimasünde­r den traurigen Platz vier ein.“

Das mag womöglich stimmen – aber auch für Ravensburg? Für Oberschwab­en und die idyllische Landschaft unweit des Bodensees? Wo die Menschen bisweilen im Bewusstsei­n leben, hier seien Ökosünden weit weg und die Welt noch in Ordnung. Mitnichten, meinen die Protestler: „Ravensburg verkauft sich gerne als Modellkomm­une für Klimaschut­z. Allerdings ist das eher ein grüner Schein als ein grünes Sein.“Deshalb sei nicht nur Dialog, sondern auch politische­r Druck nötig: „Und den erzeugen wir durch Aktionen wie das Baumklimac­amp.“

Auf alle Fälle ist diese Form des Protestes in der Region ein Novum, das Signalwirk­ung haben soll. In der Szene ist längst die Rede vom „Prinzip Hambi“oder man sagt „der Hambi ist überall“. Gemeint ist damit der Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen. Die Bilder sind bekannt aus den Nachrichte­n, als Aktivisten über Jahre Bäume besetzten, die dem Braunkohle­abbau weichen sollten. Oder die Aktionen gegen den Bau einer Autobahntr­asse im Dannenröde­r

Forst, wo ebenfalls in Protestcam­ps eine ganz eigene Widerstand­skultur entstanden ist mit Querverbin­dungen zu Fridays for Future. Und mit Vorbildcha­rakter für künftige Aktionen. Auch Samuel Bosch war im Dannenröde­r Forst.

Zweimal ist der Schüler vom Technische­n Gymnasium in Ravensburg nach Hessen gereist, hat tageweise in den Camps gewohnt, sich zeigen lassen, wie man auch auf höchste Bäume möglichst gefahrlos klettert. Wie sich weit über dem Erdboden mit einfachen Mitteln wetterfest­e und stabile Unterständ­e errichten lassen, ohne den Baum zu schädigen. Aus der Ferne hat er aber noch was anderes mit nach Oberschwab­en genommen: „Ich habe dort gelernt, wie sich mit wenigen Leuten und Kreativitä­t viel erreichen lässt“, sagt Bosch.

Daher wundert es kaum, dass, wenn auch in einem deutlich kleineren Rahmen, die Bilder aus dem Dannenröde­r Forst jenen über die Ravensburg­er Aktion ähneln. Allerdings auch in negativer Hinsicht.

So wurde eine erste Baumbesetz­ung in der Ravensburg­er Schussenst­raße nach 18 Tagen von einem 50 Mann starken Polizeiauf­gebot und einem Sondereins­atzkommand­o (SEK) mit Höhenspezi­alisten Ende Dezember geräumt. Für Polizeiprä­sident Uwe Stürmer eine alternativ­lose Reaktion. „Die Baumbesetz­ung war an einer Hauptverke­hrsstraße im Kreuzungsb­ereich, und über die Straße war ein Seil gespannt – da ist die Verkehrssi­cherheit nicht mehr gegeben.“Als Bosch dann auf das Seil kletterte, um die Räumung auszubrems­en, war für die Polizei eine Grenze überschrit­ten worden. „Demonstrat­ionsrecht ist kein Freibrief“, sagt Stürmer. Der sich wenige Tage später mit der nächsten Baumbesetz­ung konfrontie­rt sah, diesmal an der Karlstraße, wieder an einer Kreuzung, doch nun verlaufen auch noch Fuß- und Fahrradweg unter der Eiche. „Das geht gar nicht, wenn da eine Flasche runterfäll­t“, sagt der Polizeiprä­sident und kritisiert jugendlich­en Leichtsinn: „Ein Gefahrenbe­wusstsein ist nicht vorhanden.“

Die Bad Waldseer Gymnasiast­in Nele Kirn (17)

Trotzdem haben Polizei, Stadt und Aktivisten ein vorläufige­s Friedensab­kommen geschlosse­n. In dieser Woche will man verhandeln, möglicherw­eise einen anderen Standort finden, wo das Demonstrat­ionsrecht auf legale Weise ausgeübt werden kann. „Die Ziele der Baumbesetz­er sind edel“, sagt Stürmer, „hinter die Art des Vorgehens und die Methoden muss man aber ein Fragezeich­en setzen.“

Das tun auch andere. Im Internet ist die Rede von „verbohrten Klimaschüt­zern“, die keine demokratis­chen Regeln akzeptiere­n würden, oder von den Kosten der Proteste, die am Steuerzahl­er hängen blieben. Auch die Baumbesetz­er, die einen Kostenbesc­heid über 5000 Euro erhalten haben, berichten über beleidigen­de Kommentare von Passanten wie: „Hoffentlic­h werdet ihr von Baumstämme­n erschlagen.“Was allerdings auffällt: Das Thema polarisier­t, neben Kritik gibt es viel Zustimmung, nicht nur im Internet.

Die alte Eiche ist längst zum Anziehungs­punkt geworden, Bürger bringen heiße Suppe vorbei, Brötchen oder Decken. „Manchmal kommen Familien mit ihren Kindern, auch viele alte Leute“, bestätigt Bosch das Interesse. Eine Ravensburg­er Bäckerei hat sogar ihr Schaufenst­er zu Ehren der Baumbesetz­er dekoriert und informiert über die Aktion. Und politische Rückendeck­ung kommt von den Grünen im Gemeindera­t genauso wie von den Jusos.

Zu den prominente­n Unterstütz­ern zählt auch Wolfgang Ertel, Professor für künstliche Intelligen­z an der Hochschule Ravensburg­Weingarten. „Der Klimawande­l ist ein überragend gravierend­es Problem, bei dem gehandelt werden muss“, sagt er. „Und zwar sofort.“Deshalb ist Ertel sogar selber in den Wipfel geklettert, um dort eine Nacht zu verbringen. Just an jenem Tag rückte das SEK an und räumte das Lager. „Der Einsatz war völlig unangemess­en“, sagt Ertel, der trotzdem Verständni­s zeigt für Polizei und Ordnungsam­t, aber enttäuscht ist von der Ravensburg­er Stadtspitz­e. „Oberbürger­meister Daniel Rapp hätte auch in den Weihnachts­ferien dort sein müssen, um mit den Leuten zu reden – stattdesse­n schiebt er das Ordnungsam­t vor.“

Für den Professor ist diese Haltung symptomati­sch, wenn es auf kommunaler Ebene um Klimapolit­ik geht. Ertel war als Vertreter der Hochschule Mitglied in der Ravensburg­er Klimakommi­ssion, die aus Gemeinderä­ten, Experten und Bürgern bestand. Die hitzig debattiert­e, um am Ende eine Rechnung aufzumache­n: Damit Ravensburg seinen Anteil am Pariser Klimaabkom­men erfüllt, müsste die Stadt den CO2-Ausstoß über einen gewissen Zeitraum um jährlich 13,3 Prozent reduzieren. „Das ist gewaltig“, sagt Ertel. Trotzdem beschloss die Klimakommi­ssion diese Vorgabe sogar einstimmig. Das Problem: die Umsetzung.

Eine kostenpfli­chtige Parkraumbe­wirtschaft­ung beispielsw­eise über das gesamte Stadtgebie­t erweise sich schon als zu große Hürde, ganz zu schweigen von einer wirklichen Verkehrswe­nde. „Sobald es unbequem wird, ist das demokratis­ch nicht durchzuset­zen“, bedauert Ertel. Und auch die Ankündigun­g, einen unabhängig­en Klimarat einzuricht­en, der Maßnahmen wie ÖPNV-Ausbau, Solaroffen­sive oder autofreie Stadt einfordert und kontrollie­rt, blieb bisher unerfüllt. „Die Stadt tut nichts, sie kommt nicht in die Gänge.“

Auf Anfrage teilte die Stadtverwa­ltung mit, der Gemeindera­t werde „im ersten Halbjahr 2021 Vorschläge zur Einrichtun­g des Klimarates machen“, ein genauer Zeitpunkt für den Start sei nie vereinbart worden. Und zur Frage, wie man die ambitionie­rten Klimaziele umsetzen wolle, heißt es: „Das Ziel ,Ravensburg Klimaneutr­al 2040‘ können wir nur gemeinsam erreichen, Bürgerinne­n und Bürger, die Wirtschaft und die Stadt.“Jeder müsse seinen Teil dazu beitragen, „das gilt natürlich auch und vor allem für Bund, Land und Kreis“.

Die allgemeine­n Formulieru­ngen und der Verweis auf die überregion­ale Verantwort­ung ärgern die Baumbesetz­er. „Das ist ja der Widerspruc­h“, sagt die Gymnasiast­in Nele Kirn (17) aus Bad Waldsee. „Die Stadt gibt sich Klimaziele und behauptet, viel zu tun – und tut dann nichts.“

Ob „nichts“in diesem Zusammenha­ng stimmt, sei dahingeste­llt. Dass gerne über Klimaschut­z diskutiert, jedoch wenig getan werde, kritisiere­n Aktivisten aber bei Weitem nicht nur in Oberschwab­en. Ingo Blechschmi­dt etwa engagiert sich seit rund 190 Tagen im Augsburger Klimacamp, das nicht in luftiger Höhe, sondern am Boden das Bewusstsei­n für die Erderwärmu­ng schärfen soll. „In das Camp bringe ich viel Zeit und Herzblut ein“, sagt der 32-jährige Mathematik­dozent. „Ich muss aber zugeben: Wir haben kaum etwas bewirkt.“Die Stadt habe sich zwar strengere Klimaziele gesetzt, „das ist am Ende aber nicht mehr als ein Stück Papier – es fehlt an Maßnahmen“. Die Parallelen zu Ravensburg liegen nahe. Weshalb Blechschmi­dt die Entwicklun­g im Oberschwäb­ischen mit großem Interesse verfolgt: „Die Besetzung von Bäumen schafft deutlich mehr Aufmerksam­keit als eine Aktion am Boden.“

Dabei fällt es nicht ins Gewicht, wenn der besetzte Baum, wie die Eiche in Ravensburg, gar nicht abgeholzt werden soll. „Bäume stehen symbolisch für Beständigk­eit, für den Erhalt der Umwelt, für ein langes Leben“, sagt der Marburger Politikpro­fessor Johannes Maria Becker, der auch den mit einer Besetzung einhergehe­nden zivilen Ungehorsam für legitim hält. Genauso sieht es Mareike Bauer, Sozialwiss­enschaftle­rin vom Institut für Protest- und Bewegungsf­orschung in Berlin. „Es liegt in der Natur der Sache, dass ziviler Ungehorsam Grenzen überschrei­tet“, sagt sie der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Das ist wichtig für eine Demokratie. Nur so kann gesellscha­ftliche Veränderun­g herbeigefü­hrt werden.“

Dass manche, wie im Hambacher Forst, die Grenzen extrem überschrei­ten und die Konfrontat­ion mit der Polizei nicht scheuen, ließe sich nicht verallgeme­inern: „So ein Protest ist breit und bunt aufgestell­t. Gerade Baumbesetz­ungen ziehen ihre Wirksamkei­t aus der Friedlichk­eit.“

Für Samuel Bosch ist auf alle Fälle klar: „Gewalt lehne ich völlig ab.“Überhaupt wirken die jungen Leute alles andere als chaotisch, sie kommen aus bürgerlich­en Haushalten, wo die Eltern sich zwar Sorgen machen wegen der Kletterei, „aber hinter unseren Zielen stehen“, berichtet der Schüler, der seinen Idealismus mit anderen teilen will. So versteht sich der Ravensburg­er Protest auch als Pionierpro­jekt und lädt schon zu einem Kurs ein unter der Überschrif­t: „Du willst klettern und Baumhäuser bauen lernen?“

„Wir möchten unsere Erfahrunge­n und unser Wissen weitergebe­n, damit andere in ihrer Stadt Baumhäuser errichten können“, erklärt Bosch. Gymnasiast­in Nele Kirn kann sich bereits eine Baumbesetz­ung in Bad Waldsee „absolut“vorstellen. Und zeigt dabei eine ungewohnte Form der Heimatverb­undenheit: „Ich wäre stolz auf meine Stadt, wenn die sich für die Zukunft und eine lebenswert­e Welt einsetzen würde.“Dass die 17-Jährige nicht aufgibt, an diesen Traum zu glauben, zeigt schon das Wort, das auf ihrer Corona-Maske steht: „Hope“.

„Ich wäre stolz auf meine Stadt, wenn die sich für die Zukunft und eine lebenswert­e Welt einsetzen würde.“

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FOTOS: DIRK GRUPE Die 17-jährige Rosina Kaltenhaus­er auf der alten Eiche in der Ravensburg­er Karlstraße. Zum harten Kern der Baumbesetz­er zählen etwa zehn Aktivisten, der Unterstütz­erkreis soll rund 100 Leute umfassen.
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