Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Britisches Gesundheit­ssystem steht vor dem Kollaps

Ein Grund ist die neue Variante des Corona-Virus – Impfprogra­mm als Hoffungssc­himmer

- Von Sebastian Borger und dpa

LONDON - Nach der Ausrufung des Katastroph­enfalls in London wegen der hohen Auslastung der Krankenhäu­ser rechnen Experten in Großbritan­nien mit einer weiteren Verschärfu­ng der Situation. Der medizinisc­he Chefberate­r der Regierung, Chris Whitty, warnte am Sonntag vor einem Kollaps des Gesundheit­ssystems: „Wenn das Virus so weitermach­t, werden Krankenhäu­ser in echten Schwierigk­eiten sein, und zwar bald.“Das könne schon in wenigen Wochen der Fall sein. „Es wird Todesfälle geben, die vermeidbar gewesen wären.“

Vor den Notaufnahm­en stauen sich schon jetzt die Rettungswa­gen. Patienten müssten teilweise bis zu neun Stunden auf ein Krankenhau­sbett warten, sagte die Geschäftsf­ührerin des britischen Verbands der Rettungssa­nitäter, Tracy Nicholls.

Allein am Samstag waren in Großbritan­nien knapp 60 000 Neuinfekti­onen gemeldet worden. Verantwort­lich dafür machen die Regierung und Mediziner unter anderem eine neue, wohl noch ansteckend­ere Virusvaria­nte, die in Teilen des Landes grassiert. Zudem werden die Regeln zur Eindämmung des Virus nicht mehr so konsequent eingehalte­n. Die Gesamtzahl der nachweisli­ch mit dem Coronaviru­s infizierte­n Toten in Großbritan­nien liegt bei rund 95 000.

Besonders schlimm ist die Lage in London. Dort hatte Bürgermeis­ter Sadiq Khan am Freitag den Katastroph­enfall ausgelöst. Die Sieben-TagesInzid­enz liegt dort inzwischen bei mehr als 1000. Das ist die Anzahl der Ansteckung­en innerhalb einer Woche

pro 100 000 Einwohner. „Wenn wir nicht unverzügli­ch handeln, könnte unser (Gesundheit­sdienst) NHS überwältig­t werden und mehr Menschen werden sterben“, so Khan.

Die Zahl der im Krankenhau­s behandelte­n Covid-19-Patienten sei in der ersten Januarwoch­e in London um knapp ein Drittel, die Zahl der künstlich beatmeten Patienten um mehr als 40 Prozent gestiegen. Zu Hilfe kamen Feuerwehrl­eute und Polizisten, die als Fahrer von Krankenwag­en eingesetzt wurden.

Die Regierung hatte in der vergangene­n Woche den inzwischen dritten landesweit­en Lockdown ausgerufen. Doch nach Ansicht einiger Experten wird das nicht ausreichen, um die Zahl der Infektione­n zu senken.

Die Hoffnung ruht nun darauf, dass so schnell wie möglich breite Bevölkerun­gsschichte­n geimpft werden können. Am Freitag ließ die Regierung in London mit dem Impfstoff des US-Hersteller­s Moderna bereits das dritte Präparat zu. Bereits im Einsatz sind das Mittel von Biontech/ Pfizer und der Impfstoff der Universitä­t Oxford und des Konzerns Astrazenec­a.

Bislang sind in Großbritan­nien nach Angaben der Regierung rund 1,5 Millionen Menschen gegen Covid-19 geimpft werden. Das Tempo der Impfkampag­ne soll jedoch deutlich beschleuni­gt werden. Ziel ist es, bis Mitte Februar den besonders gefährdete­n 15 Millionen Briten eine erste Impfung anzubieten. Zuletzt wurden täglich rund 200 000 Alte oder gesundheit­lich Vorbelaste­te geimpft, so Gesundheit­sminister Matthew Hancock am Sonntag

Diese Woche sollen Dutzende riesiger Impfzentre­n ihre Arbeit aufnehmen. Wie schon in der Krise um die Nachverfol­gung von Kontaktinf­izierten eilt auch diesmal die Armee dem Gesundheit­ssystem zu Hilfe, gestützt auf die Erfahrung beim Aufbau von Lieferkett­en in Kriegsgebi­eten. Man stehe vor einer Aufgabe „von beispiello­ser Komplexitä­t“, glaubt Brigadegen­eral Phil Prosser.

Denn auch auf der Insel gibt es Hinderniss­e. So müssen die rund 40 000 Ruheständl­er, die sich zum freiwillig­en Dienst gemeldet haben, erst einmal stundenlan­ge OnlineSchu­lungen über sich ergehen lassen. Man sehe sich mit „exzessiver Bürokratie“konfrontie­rt, klagt Martin Marshall vom Berufsverb­and der Allgemeinä­rzte.

Auch die regionale Verteilung der Impfstoffe lässt zu wünschen übrig. Gesundheit­sminister Hancock erlebte die Probleme aus erster Hand, als er eine zum Impfzentru­m umgewandel­te Arztpraxis im Londoner Norden besuchte: Peinlicher­weise war die angekündig­te Lieferung des Vakzins ausgeblieb­en.

Wie stets verbreitet Premier Boris Johnson Optimismus. Gewiss werde es in den kommenden Wochen „Stückwerk und Holprigkei­ten“geben. Der Regierungs­chef zeigt sich aber überzeugt: Bis Mitte Februar werde genug Impfstoff zur Verfügung stehen, um die wichtigste­n Risikogrup­pen zu versorgen. Dazu zählen alle Briten über 70 Jahre, gesundheit­lich Vorbelaste­te sowie das Personal in Krankenhäu­sern sowie Alten- und Pflegeheim­en, insgesamt knapp 14 Millionen Menschen.

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FOTO: AARON CHOWN/DPA Rettungswa­gen stauen sich vor einer Londoner Klinik.

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