Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Russlands Osten bietet Putin die Stirn

Seit Monaten protestier­en Menschen in Chabarowsk gegen den Präsidente­n und rechnen mit seiner Politik ab

- Von Christian Thiele

CHABAROWSK (dpa) - Seit einem halben Jahr schon begehrt der äußerste Osten Russlands gegen Moskau auf. Woche für Woche gehen die Menschen in der Großstadt Chabarowsk auf die Straße. „So was haben wir in Russland noch nicht gesehen“, sagt der Moskauer Politologe Alexander Kynew. „Ich kenne kein derartiges Beispiel seit dem Zerfall der Sowjetunio­n.“Auslöser war die Inhaftieru­ng eines beliebten Gouverneur­s Anfang Juli. In der 20-jährigen Ära von Kremlchef Wladimir Putin hat noch nie ein Protest so lange gedauert. Und die Menschen auf der Straße rechnen dabei auch mit seiner Politik ab.

Der Student Iwan Orlow ist einer von ihnen. „Ich denke, die Regierung hat die Botschaft verstanden“, spricht der 23-Jährige den weitverbre­iteten Unmut an. Er sei gespannt, ob die Regierungs­partei Geeintes Russland bei den Parlaments­wahlen im Herbst abgestraft wird. Sie ist bei vielen als Partei der Diebe und Gauner verschrien. Diese Botschaft ist immer wieder auf Protestpla­katen zu lesen. Die Demonstrat­ionen sollten nun aber pausieren, findet Iwan. „Es ist verdammt kalt hier.“In Chabarowsk unweit der Pazifikküs­te rutschten die Temperatur­en dieser Tage auf bis minus 30 Grad ab.

Die Stadtverwa­ltung zählte zuletzt noch etwa 30 Hartgesott­ene, die trotz Eiseskälte für den früheren Gouverneur Sergej Furgal demonstrie­rten. In den wöchentlic­hen Mitteilung­en des Rathauses schwingt die Freude mit, dass es seit dem Herbst deutlich weniger Demonstran­ten geworden sind. Zu Spitzenzei­ten im Sommer waren Zehntausen­de durch die Stadt mit fast 600 000 Einwohnern gezogen.

„Das kam absolut unerwartet für Moskau“, sagt der Politologe Alexander Schmeljow. Putin schwieg über Monate dazu. Der Kreml wollte den Konflikt aussitzen. Erst vor wenigen Tagen bezog er Stellung. „Es geht hier um Mord an Menschen“, meinte Putin mit Blick auf den Ex-Gouverneur, den der Präsident selbst feuerte – und mit seinen Worten vorverurte­ilt. „Das sind ernsthafte Anschuldig­ungen.“

Gegen den früheren Unternehme­r Furgal wird wegen Beteiligun­g an Auftragsmo­rden vor mehr als 15 Jahren ermittelt. Seit Anfang Juli sitzt er im mehr als 6000 Kilometer entfernten Moskau in Untersuchu­ngsDer haft. Er bestreitet die Vorwürfe vehement. Furgal ist Mitglied der ultranatio­nalistisch­en Liberaldem­okratische­n Partei des Rechtspopu­listen Wladimir Schirinows­ki. Bei der Gouverneur­swahl 2018 setzte er sich gegen den Kandidaten der Kremlparte­i durch. Seither ist er ein Ärgernis für Moskau. Viele Demonstran­ten sehen das Verfahren gegen den 50-Jährigen deshalb als politisch motiviert an. Sie wollen wenigstens erreichen, dass Furgal in Chabarowsk vor Gericht kommt und nicht in der fernen Hauptstadt.

Putin zeigt Verständni­s für den Unmut der Protestier­enden, die fast acht Flugstunde­n von ihm entfernt leben. „Ich verstehe die Menschen, die enttäuscht sind, weil Furgal verhaftet wurde, weil sie mit ihm gerechnet haben. Sie haben ihm ihre Stimme gegeben.“Auch gegen Mitglieder der Kremlparte­i werde in solchen Fällen ermittelt. „Sollen wir etwa für irgendwelc­he Parteien Ausnahmen machen?“

Kreml hat lange unterschät­zt, welche Sprengkraf­t der Fall hat. Die Schockwell­en reichten bis nach Moskau. Allerdings verlagerte sich mit den Massenprot­esten im Nachbarlan­d Belarus die Aufmerksam­keit. Belarus nehme man in Moskau als näher wahr, Chabarowsk als weit entfernt, meint der Politologe Nikolai Petrow. Moskau war dennoch überrascht von dem zivilen Ungehorsam der Menschen im Osten. „Die Leute gehen trotz Repression­en auf die Straße“, sagt Schmeljow.

„Der Protest ist aber ein lokaler geblieben“, so Petrow. Groß war die Sorge des Kreml, dass die Proteststi­mmung auch auf andere Landesteil­e überschwap­pen könnte. Immerhin ist die Unzufriede­nheit groß über die Politik in Russland – und über Putins lange Amtszeit. Wegen des niedrigen Gaspreises hat sich die Wirtschaft­skrise verschärft.

Der Aktivist Rostislaw Smolenski aus Chabarowsk sieht in dem Protest auch ein Aufbegehre­n gegen „die

Machtzentr­ale in Moskau“, weil die Menschen kein Gehör fänden. „Bei uns waren überall Moskauer Unternehme­n. Furgal hat das beendet.“Er kürzte zudem den Staatsbedi­ensteten die Rente und verkaufte die Regierungs­jacht. „Die Menschen haben mit Furgal Veränderun­gen gespürt“, meint Smolenski. Die Chabarowsk­er loben vor allem die Sozialpoli­tik des freundlich­en und volksnahen Unternehme­rs, dass mehr Geld in Schulen und Kindergärt­en geflossen ist. Er sorge für besseres Essen in Schulkanti­nen.

Andere Beobachter sehen in dem Protest das Ende der Machtzentr­ale in Russland – und eine Entwicklun­g hin zu mehr Föderalism­us.

Ungewöhnli­ch für Proteste in Russland war zunächst, dass die Polizei in Chabarowsk die Demonstrat­ionen nicht auflöste – anders als in Moskau oder St. Petersburg. Doch seit Wochen erhöhen die Sicherheit­skräfte den Druck.

95 Menschen wurden den Behörden zufolge schon festgenomm­en, 41 zu gemeinnütz­iger Arbeit verurteilt. 320 mussten eine Geldstrafe zahlen. Aktivisten beklagen auch zunehmende­n Druck auf Journalist­en, die über die Protestmär­sche und Aktionen berichten.

Furgal selbst bleibt weiter in Untersuchu­ngshaft. Ein Gericht lehnte vor wenigen Tagen einen Antrag auf Hausarrest ab. Kurz vor den großen Feierlichk­eiten zum Jahreswech­sel durfte Furgal immerhin mit seiner Familie telefonier­en – das erste Mal seit einem halben Jahr.

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FOTO: IGOR VOLKOV/AFP Noch im Sommer protestier­ten Tausende gegen die Inhaftieru­ng des rechten Gouverneur­s Sergej Furgal. Die Proteste ziehen sich bis jetzt, auch wenn die Zahl der Demonstran­ten im russischen Winter abgenommen hat.
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FOTO: DIMITAR DILKOFF/AFP Am 10. Juli 2020 wurde Sergej Furgal verhaftet. Er soll an Auftragsmo­rden beteiligt gewesen sein.

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