Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Der Schatz unterm Dach von St. Martin
Welche Herausforderungen die Sanierung der Biberacher Kirche mit sich bringt
BIBERACH - Als einen „absoluten Schatz“bezeichnet Bernd Otto, Biberacher Zimmermeister und Restaurator im Zimmerhandwerk, den Dachstuhl der Stadtpfarrkirche St. Martin. Um diesen Schatz zu bewahren, sind in den nächsten Jahren umfassende Sanierungsarbeiten notwendig, die rund 2,4 Millionen Euro kosten werden. Die Bauhütte Simultaneum bittet nach der erfolgten Innensanierung der Kirche um Spenden für die Dachstuhlsanierung des Wahrzeichens der Stadt.
Wer in den Dachstuhl von St. Martin will, steigt zunächst dieselben Treppen hinauf, die auch in den Turm führen. Nach unzähligen Stufen steht man vor einer braunen Metalltür. Öffnet man diese, stellt man fest, dass man eigentlich schon auf Firsthöhe des Kirchendachs steht und über eine schmale, steile Holztreppe in den Dachstuhl hinuntersteigen muss. Dort ist der Laie zunächst beeindruckt von dem Gewirr an Balken.
Wissen muss man dazu, dass der Dachstuhl, so wie man ihn heute sieht, nicht in einem Zug erbaut wurde. „Der ursprüngliche Dachstuhl über dem Kirchenschiff stammt aus der Zeit um 1365/66, also aus der Gotik“, erklärt Bernd Otto. Der Kirchenraum reichte damals bis unter das Dachgebälk, wodurch der Charakter eines Gewölbes entstand. „Zu erkennen ist das heute noch an der Chorbogenwand, die im Dachstuhl die Grenze zwischen Langschiff und Chorraum bildet“, sagt Otto. Dass diese Wand zum ursprünglichen Kirchenraum gehörte, zeigt sich daran, dass sie verputzt und mit einem Gemälde verziert war, dass das Jüngste Gericht darstellt und das noch in Fragmenten erhalten ist. So ist beispielsweise eine Jesusdarstellung zu erkennen. „Diese Wand muss denkmalgerecht gesichert werden, was rund 50 000 Euro kosten wird“, sagt Hans Beck, Vorsitzender der Bauhütte Simultaneum. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, Spenden für die Kirchensanierung zu sammeln.
Doch zurück in die Historie: Zwischen 1744 und 1748 erfolgte ein massiver Eingriff in den Dachstuhl. Die Kirche wurde barockisiert, weil der gotische Baustil nicht mehr zeitgemäß erschien. Dabei wurde eine Decke eingezogen, deren kunstvolle Gestaltung die Kirchenbesucher von unten bis heute bestaunen können. Der Maler Johann Zick schuf ab 1746 eines der größten Deckengemälde Deutschlands. Wer auf dieser Decke steht und in den Dachstuhl blickt, sieht, dass die Baumeister des Barock Unglaubliches geleistet haben. „Sie haben, ohne das bestehende Dach abzunehmen, die Last dieser neu eingezogenen Decke im Dachstuhl verteilt“, sagt Bernd Otto. Salopp ausgedrückt, haben sie die neue Decke mit ihrem ganzen Gewicht an den bestehenden Dachstuhl „drangehängt“.
„Dabei sind sie allerdings nicht besonders zimperlich vorgegangen“, sagt der Restaurator. Durch das Jesusfresko an der Chorbogenwand wurde ziemlich brachial ein großer Balken getrieben. In den Dachstuhl wurden sogenannte Hängewerke eingebaut, die die Last der neuen Decke zunächst nach oben und über Streben dann in die Außenmauern der Kirche ableiteten. Bei einer Sanierung in den 1960erJahren schien man der Statik allerdings nicht mehr zu vertrauen und fügte weitere Holzbalken ein, die verschraubt wurden. Sie sollten der Konstruktion mehr Sicherheit verleihen. Als „Angsthölzer“bezeichnet Bernd Otto diese Balken, von denen er allerdings vermutet, dass sie ihren Zweck im Ernstfall nicht erfüllen würden.
Die Sanierung aus den 1960er-Jahren sorgt auch im Bereich der Barockdecke für Kopfzerbrechen. „Diese Decke wurde im 18. Jahrhundert mit sehr hohem Konstruktionsaufwand eingebaut“, sagt Hans Beck. „Sie ist als sehr dünne Gipskonstruktion in die Balken eingehängt. In den 60er-Jahren wurde versucht, diese Konstruktion durch das Einbringen einer durchgängigen Gipsverstärkung zu stabilisieren.“Das sei jedoch mit dem Nebeneffekt verbunden, dass die Decke versteift wurde. „Seither haben Bewegungen in der Balkenkonstruktion unmittelbare Auswirkungen auf die Barockdecke“, so Beck. Die Sanierung der Balken müsse daher behutsam und mit größter Sorgfalt ausgeführt werden, bei gleichzeitiger Sicherung der Decke.
Spannende Aufgaben warten auf die Restauratoren auch über dem Chorraum. Dort ist das Gebälk aus den Jahren 1337/38 fast vollständig erhalten. Es könnte viel erzählen: vom Stadtbrand 1516, von den Wirren der Reformation, von der simultanen Nutzung der Kirche durch beide Konfessionen seit 1548, vom Kirchturmbrand 1584, von den Franzosenkriegen um 1800, dem Ende der Reichsstadt Biberach 1802, dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Beginn des Wohlstands der Stadt.
„Die Deckenbalken über dem Chor sind riesig und man fragt sich wirklich, wie die Zimmerer des 14. Jahrhunderts die damals bis hier herauf bekommen haben“, sagt Bernd Otto. Bemerkenswert findet er auch, dass dort Pappelholz verwendet wurde. „Das ist normalerweise als Bauholz nicht bekannt.“Dass es in St. Martin doch verbaut wurde, wie in anderen Gebäuden des Mittelalters, könne an der damaligen Holzknappheit gelegen haben, vermutet Hans Beck, jahrzehntelang Forstamtsleiter in Biberach. „Die Hölzer sind inzwischen fast 700 Jahre alt und halten noch sehr lange, wenn sie trocken bleiben“, sagt er.
Dass das aber auch schiefgehen kann, zeigt sich in der Spitze des Walms, der das Ende des Dachstuhls über dem Chorraum bildet. „Dort hat es vermutlich über einen längeren Zeitraum unbemerkt hineingeregnet, woraufhin das Holz zu faulen begann“, erläutert Otto. Mitte des 19. Jahrhunderts sei versucht worden, das mit einem Flickwerk zu reparieren. Allerdings nicht wirklich professionell. An den Fußpunkten sind die Balken zum Teil so verfault, dass sie innen hohl sind. Zum Teil kann man mit den Fingern hineingreifen.
Sorgen macht auch ein gerissener Balken in der Kuppel des Chorraums. Er sei selbst schon einmal in den Zwischenraum hinuntergestiegen, um sich den Schaden anzusehen, sagt Bernd Otto. Seine Vermutung ist, dass der Balken am 12. April 1945 beim Bombenangriff auf Biberach gerissen ist, als die Druckwelle wohl auch in der Kirche zu spüren gewesen sei. Sollte der gerissene Balken ausgetauscht werden müssen, sei dies mit erheblichem Aufwand verbunden, schätzt der Restaurator.
Dass man es bei der Sanierung in den 1960er-Jahren offenbar mit dem Aufräumen der Baustelle nicht so genau genommen hat, zeigt der Schutt, der bei der jetzigen Schadensaufnahme zu Tage trat, als man die Verschalung des Fußbodens im Dachstuhl öffnete; darunter auch alte Bierflaschen.
Die Schadenskartierung bildet die Grundlage für eine exakte Kostenrechnung. Der nächste Schritt ist nun die Reparatur der tragenden Verbindungen im Gebälk, die Schäden aufweisen. Zu klären ist, ob die Dämmung aus Steinwolle, die in den 1960er-Jahren in die Barockdecke eingebaut wurde, entfernt werden kann oder ob man damit die Decke selbst beschädigt. Neben der Sanierung des Dachstuhls müssen die Grundleitungen und die Dachabläufe erneuert werden, um die Fundamente trockenzulegen. Dachhaut und -hülle hingegen sind in einem sehr guten Zustand.
„Wir möchten, dass die Maßnahmen bis zu den Heimattagen BadenWürttemberg 2023 in Biberach abgeschlossen sind“, sagt Hans Beck. Damit der Schatz St. Martin wieder neu erstrahlt, hofft er auf viele Spenden an die Bauhütte Simultaneum.