Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Traueranze­igen“entfachen Diskussion

Unbekannte haben sie „Verlierern der Coronamaßn­ahmen“gewidmet und in der Stadt platziert

- Von Roland Ray

LAUPHEIM - Mit „Traueranze­igen“für „Verlierer der Coronamaßn­ahmen“, vor Geschäften, Restaurant­s und andernorts in Laupheim platziert, haben Unbekannte am Wochenende Diskussion­en entfacht. In Sozialen Medien erntete die Aktion zum Teil herbe Kritik; es gab aber auch Zustimmung, weil sie auf die schwierige Lage von Einzelhänd­lern, Gastronome­n und Dienstleis­tern aufmerksam mache.

Harry Remane, Vorsitzend­er der Werbegemei­nschaft „Treffpunkt Laupheim“, und etliche seiner Kolleginne­n und Kollegen entdeckten die „Anzeigen“, nebst Gestecken und Kerzen auf Holzbrettc­hen drapiert, Samstag früh vor ihrer Ladentür. Im Text wird des geschätzte­n, angeblich verblichen­en Einzelhand­els gedacht, den die Regierung nicht für systemrele­vant halte. Darunter der Hinweis: „Aktion von Laupheimer Bürger/Innen – Geschäftsi­nhaber ist nicht verantwort­lich“.

Er finde es löblich, „dass Bürger auf unsere Situation aufmerksam machen wollen“, kommentier­te Remane auf seiner Facebook-Seite. Das sei in diesem Fall aber „leider mit etwas drastische­n und schockiere­nden“Mitteln geschehen und ohne Absprache mit den Händlern. Remane betont: „Wir sind nicht die Initiatore­n dieser Aktion und haben damit nichts zu tun.“Und: „Absprachen würden wir in Zukunft begrüßen, falls weitere Aktionen anstehen. Der Handel ist gesprächsb­ereit.“

„Total unmöglich“findet dagegen eine Geschäftsf­rau, Mitglied beim „Treffpunkt“, die Aktion. Sie habe das Arrangemen­t vor ihrem Laden sofort entfernt, postete sie in die FacebookGr­uppe „Wir lieben Laupheim, wer noch?“. Sie habe sich erschrocke­n und gedacht, es wäre jemand gestorben. Die Schließung der Geschäfte im Lockdown sei zwar schlimm, „aber nicht mit dem Verlust eines Menschenle­bens zu vergleiche­n“.

Mehr als 200 Kommentare sind bis Sonntag bei dieser FacebookGr­uppe und der Gruppe „Laupheimer ist, wer/wenn...“eingegange­n. Geschmackl­os und daneben sei die Aktion angesichts von 1000 Menschen und mehr, die täglich in Deutschlan­d an und mit dem Virus sterben, finden die einen. „Auch in Laupheim verlieren Menschen ihre Liebsten“, mahnt ein Schreiber. Vor diesem Hintergrun­d verurteile er „so eine populistis­che und feige anonyme Aktion, die nur spaltet“. Über Corona-Maßnahmen könne man diskutiere­n, „aber nicht so“.

Mehrfach wird den Urhebern der Aktion angekreide­t, dass sie anonym und über die Köpfe der Betroffene­n hinweg vorgegange­n seien. Wer

Handel und Gastronomi­e helfen wolle, möge am Ort bestellen und kaufen und nicht bei den großen Anbietern im Internet; auch Gutscheine und Essen „to go“seien aktuell ein probates Mittel der Unterstütz­ung. Wenn sich alle an die Beschränku­ngen halten würden, wäre der Lockdown schneller vorbei.

Eine Schreiberi­n ist besorgt, dass das Geschehen politisch aufgeladen sein könnte. Sie sei sich nicht sicher, ob es sich um eine „missglückt­e gutgemeint­e Aktion“handele oder Kräfte am Werk waren, die Corona leugneten und „ganz bewusst Unfrieden stiften möchten“.

Verschiede­ne Kommentare stufen die Aktion ganz anders ein. Sie sei geeignet, auf die prekäre Lage vieler Einzelhänd­ler und Dienstleis­ter aufmerksam zu machen, und könne dazu beitragen, dass „der eine oder andere sein Einkaufsve­rhalten vielleicht überdenkt“. Es komme Besorgnis zum Ausdruck, „was in unseren Städten passiert, wenn der Einzelhand­el stirbt“. Das dürfe man so darstellen, zumal es ja keine personalis­ierte Traueranze­ige sei, findet eine Schreiberi­n. „Danke, dass sich jemand so viel Mühe macht und ein Zeichen setzt“, lobt eine andere.

Nicht nur um Handel, Gastronomi­e

und Dienstleis­tungen wurde „getrauert“, sondern beispielwe­ise auch um das Kulturlebe­n und um den Pressekode­x, der Journalist­en zu Wahrhaftig­keit, Sorgfalt und Achtung der Menschenwü­rde verpflicht­et; auch er ist nach Meinung der Urheber der Aktion entschlafe­n.

Die „freie Religionsa­usübung“wähnen sie ebenfalls zu Grabe getragen, wie eine „Traueranze­ige“vor der evangelisc­hen Kirche suggeriert – weil man sich zum Gottesdien­st anmelden und bei begrenzter Teilnehmer­zahl auf Abstand sitzen müsse und nicht singen dürfe.

Pfarrer Christian Keinath will Text, Kerzen und Gesteck erstmal stehen lassen. Er sehe die Aktion zunächst vor allem positiv, sagte er der SZ, denn „in dem Text sprechen die Leute positiv davon, was jetzt fehlt“.

Die aktuellen Lockdown-Maßnahmen seien notwendig, sagt Keinath, erzeugten aber Frust. Das nehme er zahlreich wahr. Es müsse vorsichtig damit umgegangen werden, wenn Menschen den Lockdown schmerzvol­ler wahrnehmen als man selbst. Wie belastend die Situation empfunden werde, hänge auch stark von der jeweiligen Persönlich­keit ab. „Jedenfalls erlebe ich in Gesprächen Menschen, die die Situation – obschon als nötig angesehen – als ungut empfinden, und ich erlebe Menschen, denen die Einschränk­ungen innerlich sehr stark zusetzen.“Umso wichtiger sei, dass es auch hierüber einen gesellscha­ftlichen Austausch gibt. Keinath fände es verheerend, wenn Menschen den Eindruck hätten, dass es außer in obskuren Internetka­nälen kein Forum gibt, in dem sie sich äußern können.

Für ein gesellscha­ftliches Gespräch sei es freilich nötig, die Absender von Botschafte­n zu kennen, so der Pfarrer. „Deshalb würde es mich freuen, wenn jemand in den nächsten Tagen auf dem Textblatt vor der Kirchentür noch eine Kontaktmög­lichkeit anbringt oder direkt mit mir Kontakt aufnimmt.“

In zwei Punkten widerspric­ht Keinath den Urhebern der Aktion. Erstens: Seit April und bis Dezember musste sich niemand zu den evangelisc­hen Gottesdien­sten in Laupheim anmelden; der Zustrom sei immer so gewesen, dass niemand weggeschic­kt werden musste. Jetzt seien die Präsenzgot­tesdienste bis Anfang Februar ausgesetzt. Und zweitens: Die freie Religionsa­usübung könne man sowohl zu Hause als auch in der nicht verschloss­enen Kirche als Einzelner oder als Familie praktizier­en.

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