Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Beten und Arbeiten gegen TikTok
Armut, Alkohol und Gewalt zerrütten Russlands Familien – Wie ein Krisenzentrum versucht, jungen Frauen zu helfen
TWER - Vor Kurzem haben sie eine Frau mit drei Kindern entlassen. „Sie wollte nach Hause, weil ihr Mann aus dem Gefängnis kommt“, Anna Dudenkowa, die Leiterin, seufzt. „Aber es ist zu befürchten, dass er sie wieder verprügelt.“Auf dem Tisch im Esssaal stehen Teller mit Kartoffelsuppe, die eine der Frauen gekocht hat, Fladenbrot, das eine georgische Bäckerei, und Bohnensalat, den ein Schnellrestaurant gespendet hat.
Annas Krisenzentrum „Ein Leben“bei der Wolgastadt Twer ist ein großes, dreistöckiges, unverputztes Haus. Es steht in der vom frostweißen Bärenklau gesäumten Waldlandschaft zwischen der Umgehungsstraße und der nahen Mautautobahn. Das Haus hat noch keinen Gasanschluss, Brennholz ist knapp, aber hier gibt es größere Not.
Solche Einrichtungen heißen heute in Russland Krisenzentren, früher waren sie als Frauenhäuser bekannt. Das Frauenrechtsportal nasiliu.net zählt in Russland über 170 davon, private, kirchliche oder – seltener – staatliche Häuser. Annas „Ein Leben“ist eine Zuflucht wie Maxim Gorkis „Nachtasyl“– aber für Frauen, die ganz unten gelandet sind. Ledige oder geschiedene Mütter, Mütter mit Kindern, ohne Kinder. Und meist alkoholoder drogenabhängige Frauen, die hier die Chance auf Rehabilitation bekommen.
„Zu unserer Therapie gehören Arbeit, Disziplin und Gebet“, Anna, 35, lächelt. „Und täglich eine Stunde für jede Mutter und ihre Kinder, wo sie lesen, spielen oder einfach nur miteinander sprechen.“40 Prozent der Frauen schafften es, die übrigen gerieten wieder in ihre alten Abhängigkeiten. „Das ist eine ziemlich gute Rate“, sie lächelt wieder. Anna lächelt viel, als wolle sie gegen die Ängste und Alpträume, die sie umgeben, anlächeln. Aber es ist auch das Lächeln einer Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hat. Ihre kurzen Fingernägel hat sie hoffnungsvoll weiß lackiert.
Die Obergeschosse riechen nach frischem Holz, mehrere der elf Zimmer dienen als Lager für Baumaterialien. Seit der Gründung 2015 waren hier über 150 Frauen mit ebenso vielen Kindern. Gerade leben im Haus vier, drei sind bereit zu reden.
Jelena spricht drei Fremdsprachen, hat als Stewardess gearbeitet, jetzt ist sie hochschwanger. Sie fühlt sich hier sichtlich wohl, erzählt von den drei Männern ihrer Mutter, der erste fiel einem Raubüberfall, der zweite einem Infarkt zum Opfer. „Deshalb fing auch ihre Mutter an zu trinken“, sagt Anna. Jelena erzählt ausführlich von ihren wechselnden und immer wieder drogensüchtigen
Freunden, von den ersten Amphetaminen, die sie schluckte, davon, dass sie zurück möchte, zu ihrer wirklichen Familie. Jelena lächelt auch.
Oksana, eine hünenhafte Bäuerin, ist mit ihren drei Kindern hier. Auch ihre Eltern tranken, prügelten sich, auch sie begann zu trinken, ihr erster Mann starb an Drogen, mit dem zweiten zerstritt sie sich. Sie lebt ein Jahr hier, ist trocken und hat wieder Selbstvertrauen. „Ich will einmal ein Altersheim leiten.“
Natascha aber weint, ihre Mutter starb, ihr Vater trank, sie wuchs im Heim auf, geriet an Drogen, landete auf der Straße. Ihr Kind wurde ihr abgenommen. Jetzt hat das Zentrum einen neuen Pass für sie beantragt, sie braucht auch eine amtliche Anmeldung, um ihr Sorgerecht neu zu beantragen. „Es wird schwer werden“, sagt Anna.
Anna selbst war heroinsüchtig und obdachlos, auch sie hatte das Sorgerecht für ihre Tochter verloren.
„Irgendwann wollte ich mich nur noch umbringen. Mir fehlte bloß der Mut, aus dem Fenster zu springen.“Anna fand ihre Rettung in einem anderen evangelischen Heim für Trinkerinnen, dort traf sie erstmals Leute, die die Sucht besiegt hatten. „Trotzdem war jeder Tag in der Rehabilitation ein Kampf.“
Insgeheim gelten die Frauen als Russlands starkes Geschlecht, attraktiv, arbeitskräftig, selbstbewusst. Und die absolute Mehrheit im Land. 78,7 Millionen Frauen stehen hier 68,1 Millionen Männern gegenüber. Aber laut dem staatlichen Statistikamt sind nur 53,2 Prozent der Russinnen berufstätig, entgegen dem Mythos, 70 Jahre Sowjetsozialismus hätten die Frauen vollständig emanzipiert. Die Frauen bekommen 27,9 Prozent weniger Gehalt, sie stellen laut der Zeitung „Kommersant“nur 5,7 Prozent der Aufsichtsräte russischer Betriebe und nur 15,8 Prozent der Parlamentarier.
Anna sagt, sie sei keine Feministin. „Der Mann ist das Familienoberhaupt, diese Wahrheit steht schon in der Bibel.“Ein Mann, der wirklich an Gott glaube, werde seiner Frau oder seinen Kindern nie Leid antun.
Der Staatssicherheitsdienst FSB war schon hier, hat geprüft, ob ihr protestantisches Haus keine Sekte sei. Aber inzwischen hat das regionale Familienministerium Anna in seinen Gesellschaftsrat eingeladen. Kein Wunder: Zum einen gibt es nach amtlichen Angaben nur 14 staatliche Frauenhäuser, viel zu wenig, die Behörden sind froh über jedes funktionierende Krisenzentrum. Zum anderen predigt Anna keinen Feminismus.
Der halbstaatliche Mainstream zitiert jetzt wieder gern den sogenannten Domostroi, die patriarchalische Hausordnung des spätmittelalterlichen Russland. Dort war klar geregelt, wann und wie der Mann Frau und Kinder züchtigen soll. Seit 2017 verfolgt der Staat häusliche Gewalttaten bei der ersten Anzeige nicht mehr als Gewalttat, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit.
Die Statistik dieser Gewalt ist lückenhaft, aber so dynamisch, dass die Regierung kürzlich die Gebietsgouverneure aufgerufen hat, mehr Krisenzentren einzurichten. 2014 wurden laut dem Frauenrechtsportal Anna-center.ru 9600 Frauen von Familienangehörigen totgeschlagen. 70 bis 90 Prozent der überlebenden Opfer schweigen. Und nach Angaben der staatlichen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa gab es allein im April dieses Jahres 13 000 Fälle häuslicher Gewalt.
Die Frauen in der Region litten stark unter Gewalt, sagt die Historikerin Valentina Uspenskaja, Leiterin des Zentrums für Frauengeschichte und Genderstudien an der Universität Twer. „Unter Gewalt in der Familie, psychologischer Gewalt oder sexuellen Übergriffen.“Aber die erklärte Feministin betrachtet diese Gewalt auch als Folge des allgemeinen Elends. „Das größte Problem unserer Frauen ist Armut, die Armut ist ein Fluch.“Anna sagt, bei ihr seien Frauen angekommen, die sich dafür das erste S-Bahn-Ticket ihres Lebens geleistet hätten.
Präsident Putin, nicht gerade ein Sozialkritiker, sagt, 13,5 Prozent der Russen lebten unter dem Existenzminimum von umgerechnet 130 Euro. Und diese Armutsgrenze wirkt willkürlich: 64 Prozent der jungen Familien in Russland verbrauchen nach einer amtlichen Umfrage all ihr Geld für Essen und Kleidung, kein Wunder bei einem offiziellen Durchschnittsgehalt von 540 Euro. Oft scheint freier Fall der letzte Ausweg zu sein.
Laut dem Nachrichtenportal RBK sterben jährlich 48 000 Russen an Alkoholmissbrauch. Das Gesundheitsministerium beziffert die Zahl der Drogenopfer auf 8000, Experten aber schätzen 70 000 bis 100 000 Rauschgifttote. Über eine Million Russen oder Russinnen sind HIV-positiv.
Suff und Gewalt entspringen nicht allein wirtschaftlicher Zerrüttung. Die Familien würden durch die verschiedensten Arten von Süchten zerstört, sagt Anna. Sie berichtet von Abhängigkeiten von tyrannischen Eltern oder Lebenspartnern, über CoAbhängigkeiten von süchtiger Ehemännern, über die Mittelschuldroge Space, über minderjährige BloggerMillionärinnen als neue Jugendidole. Sie erzählt von TikTok-Russland. „Die Familien leben ohne Werte. Ehen ohne Trauschein gelten schon als Norm. Und niemand bringt den Mädchen die wirklichen Werte bei.“
Das offizielle Russland präsentiert sich seit Jahren als Hort „traditioneller Werte“, in deren Zentrum man die Familie platziert. „Wir rätseln, welche Werte damit gemeint sind“, sagt Genderforscherin Uspenskaja, „und aus welcher Epoche sie tradiert werden sollen: Russland vor der Mongolenherrschaft, zur Zeit Iwan des Schrecklichen oder der Sowjetunion?“Putins neue Verfassung verkündet, der Staat schütze Mutterschaft und Kindheit ebenso wie die Familie. Ein löchriger Schutz. 2019 lag die Scheidungsrate bei 65 Prozent der neu geschlossenen Ehen. 30 Jahre vorher, in der schon wackelnden UdSSR, waren es 42 Prozent. In Deutschland, über dessen europäische Sittenlosigkeit russische Medien gern lästern, sind es knapp 36 Prozent.
Als wir uns verabschieden, klingelt Annas Handy, ein neuer Hilferuf: Eine junge Mutter aus einem Dorf südlich von Twer sucht mit ihren Kindern Zuflucht, ihr Mann hat sie aus dem Haus geprügelt.