Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Dieser Unsinn muss ein Ende haben!“
Deutschland bei UN-Verbotsvertrag ab Freitag außen vor – Lokaler Protest am Mittwoch
- An diesem Freitag tritt der UNAtomwaffen-Verbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, abgekürzt TPNW) weltweit in Kraft – und wird bindendes Völkerrecht. Deutschland – als Land, in dem US-Atomwaffen stationiert sind – lehnt den Vertrag ab. Argument: Die Welt werde dadurch nicht sicherer, Abrüstung funktioniere nur, wenn man ein „Druckmittel“in der Hand hat. Dagegen wird an diesem Mittwoch in Ulm protestiert. Zur Kundgebung um 17 Uhr auf dem Hans-und-SophieScholl-Platz (vor dem Rathaus) laden die Gruppe „Friedensbewegt Ulm“und die „Ulmer Ärzteinitiative/IPPNW“. Redakteur Johannes Rauneker hat Reinhold Thiel, Sprecher der Ulmer Ärzteinitiative, unter anderem zu den Erfolgsaussichten der Kundgebung befragt.
Herr Thiel, Sie protestieren am Mittwoch dagegen, dass auf deutschem Boden weiterhin Atombomben gelagert werden und Deutschland damit ab Freitag gegen Völkerrecht verstoße. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass solcher Protest für ein Umdenken bei der deutschen Regierung sorgt?
In Deutschland werden leider auch danach im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“US-Atombomben gelagert. Es ist geplant, dass mit deutschen Steuergeldern neue TrägerFlugzeuge angeschafft werden, mit denen Bundeswehrpiloten neue und noch gefährlichere Generationen von Atombomben zum Einsatzziel transportieren können. Dieser Unsinn muss ein Ende haben! Dies geschieht, obwohl es 2010 im Bundestag ein großes fraktionsübergreifendes Bündnis von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegeben hatte mit dem Tenor: „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“. Meine Hoffnung auf eine Mehrheit dafür im deutschen Parlament steigt, wenn Lagerung, Transport und Stationierung völkerrechtlich geächtet werden und sich damit ein größerer öffentlicher moralischer Druck entwickelt.
Keine Frage: Es dürfte kaum einen Menschen geben, der grundsätzlich nicht für Abrüstung und Frieden ist. Das Problem erscheint eine einseitige Abrüstung und Reduzierung von Atomwaffen, das sagen zumindest viele Politiker. So lange Russland Atomwaffen besitzt, müsse auch der „Westen“welche haben. Zur Abschreckung mit der ultimativen Waffe sozusagen als Ultima Ratio. Leuchtet diese Logik nicht ein?
Sie führen hier eine veraltete Logik aus dem Kalten Krieg an. Bei dieser Logik ist verkannt, dass die Mehrheit aller Staaten keine Atomwaffen besitzt, aber im Fall eines Atomkrieges die Leidtragenden sind. Wenn wir so denken, kommen wir nie aus dem jetzigen Teufelskreis heraus, denn die Verantwortung für Abrüstung wird dabei immer auf die andere Seite geschoben. Eine Seite muss sich aber zuerst bewegen. Ich glaube da an eine alte lateinische Weisheit: „Si vis pacem para pacem“– Wenn du (wirklich) einen Frieden willst, schaffe (zuerst) du einen Frieden“. Deutschland hätte das Potenzial und das diplomatische Geschick, dafür einen Anstoß zu geben. Wenn ich der Logik ihrer Frage ernsthaft nachgehe, müssten alle Staaten auf der Welt Atomwaffen besitzen. Niemand kann ernsthaft glauben, dass wir damit sicherer leben könnten. Diese Logik ist Irrsinn und selbstmörderisch.
Wie wollen Sie Russland und beispielsweise China dazu bringen, ihr Atomwaffen-Arsenal ebenfalls zu reduzieren, vielleicht sogar auf Null irgendwann?
In der Vergangenheit hat die Diplomatie bereits wichtige Rüstungskontroll-Verträge erreicht. Diese waren so wirksam, dass die Sowjetunion und der Nachfolgestaat Russland sehr viele Atomwaffen zerstört haben. 1987 hatten sich mitten im Kalten Krieg Reagan und Gorbatschow mit dem INF-Vertrag über über die Vernichtung aller boden- und landgestützten Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite geeinigt.
Diesen Vertrag hatte Trump später einseitig gekündigt. 1991 hatte Bush sr. mit Jelzin mit dem START 1-Vertrag eine Einigung zur gemeinsamen allmählichen Reduzierung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen erreicht. Solche Verträge sind bei gegenseitigem Vertrauen möglich. China erscheint mir als das kleinere Problem, da die USA und Russland 92 Prozent der Atomwaffen besitzen. Außerdem wäre China verhandlungsbereit, wenn die USA und Russland schon signifikant reduziert hätten. Und China ist der einzige Atomwaffenstaat, der ein Atomwaffenverbot nicht kategorisch ablehnt.
Würde Deutschland Ihrer Forderung nachkommen, würde dies einen Austritt aus der Nato bedeuten – sind Sie dafür?
Es stimmt nicht, dass ein Beitritt zum Verbotsvertrag den Austritt aus der Nato bedeuten müsste. In der NatoGründungsakte steht nichts von Atomwaffen. Die nukleare Teilhabe ist lediglich ein strategisches Konzept und nicht Teil des völkerrechtlichen Nato-Vertrages. Das wird sogar durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bestätigt. Ein strategisches Konzept kann politisch verändert werden. Die Nato ist ein flexibles Bündnis und hat seit ihrer Gründung vielfach Konzepte verändert und angepasst. Die Atomwaffen-Doktrin ist kein unumstößliches Heiligtum. In Belgien und in den Niederlanden ist die Debatte über den Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe jetzt schon weit fortgeschritten. Andere Nato-Staaten, wie Griechenland oder Kanada, lehnen die Stationierung von Atomwaffen ab. Sie sind trotzdem respektierte Mitglieder der Nato. Deutschland könnte das auch sein.
Was macht Sie so sicher, dass – wenn es kein „atomares Gleichgewicht“mehr gibt – andere Atommächte wie Russland ihre Waffen nicht doch als machtpolitisches Druckmittel einsetzen? Immerhin schreckt Russland (siehe Ukraine und Krim) nicht davor zurück, in andere Länder einzumarschieren...
Welches atomare Gleichgewicht? Sie führen hier erneut eine Kategorie des Kalten Krieges an, der seit 30 Jahren vorbei ist. Wir haben im Jahr 2021 insgesamt neun Atomwaffenstaaten – Demokratien und Diktaturen – mit unterschiedlichen Einsatzdoktrinen und Arsenalen von knapp hundert Waffen bis mehrere tausend und mit Sprengkräften, die das tausendfache der Hiroshimabombe übersteigen. Das gesamte Sicherheitsumfeld hat sich in diesen 30 Jahren geändert – wir diskutieren über autonome Waffen, Cyberangriffe auf Kommunikations- und Sicherheitsnetze, „Mini-Nukes“. Und das alles in beschleunigten Kommunikationsund Entscheidungszyklen. In diesem Umfeld stellen Atomwaffen vor allem ein Risiko dar, keine Sicherheit. Aber selbst in den Zeiten des kalten Krieges hatte es dafür ein historisches Beispiel zur Antwort gegeben. Während der Kubakrise sind sich die USA und die Sowjetunion – beide nuklear bewaffnet – gegenüber gestanden. Es ist damals mit einem Patt ausgegangen. Die effektive Lösung dieser Krise war aber Verständigung, nämlich die Einrichtung des roten Telefons zwischen der Sowjetunion und Amerika, eine Kommunikation zwischen den Präsidenten. Verständigung ist auch heute immer noch die einzige effektive Krisenlösung.
Was ist das Verheerende an Atomwaffen?
Atomwaffen sind die zerstörerischsten aller Waffen und setzen eine Unmenge an radioaktiver Belastung in die Umwelt frei. Jeder Einsatz hätte unübersehbare humanitäre Folgen. Aber auch schon ohne kriegerischen Einsatz gefährden sie uns alle durch mögliche Unfälle, durch mögliche Fehleinschätzungen oder kriminelle vorsätzliche Auslöser. Die Folgen machen nicht an nationalen Grenzen halt, hinterlassen gravierende Folgen auf den Fortbestand der Menschheit, die Umwelt, die Weltwirtschaft,
Ernährung und Gesundheit heutiger und folgender Generationen. Jeder Einsatz von Kernwaffen ist ein abscheulicher Affront gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und des öffentlichen Gewissens.
Wie viele Atomwaffen gibt es aktuell auf der Welt?
Etwas weniger als 14 000. Davon sind zirka 4500 sofort einsatzbereit und 1800 Interkontinentalraketen stehen auf höchster Alarmstufe. Das heißt: Wenn das Frühwarnsystem meldet, dass ein Raketenangriff bevorsteht, werden sie gestartet. Es gibt kaum Zeit zu erkennen, ob es ein Fehlalarm oder einen echter Angriff ist.
Glauben Sie, mit Biden als neuem US-Präsident könnten sich die großen Atommächte in Sachen atomarer Abrüstung wieder annähern?
Ja, da mit der neuen US-Regierung hielte ich eine Annäherung zumindest für denkbar. Aber wir sollten nicht nur auf einzelne Präsidenten schauen. Wichtig für eine nachhaltige Lösung halte ich eine weltweite Übereinkunft aller, beziehungsweise möglichst vieler Staaten für eine atomwaffenfreie Welt. Deshalb ist das jetzige Atomwaffenverbot so wichtig, weil es ab jetzt ein Teil des Völkerrechts ist. Der Atomwaffenverbots-Vertrag ist ein Vertrag der Vereinten Nationen und nicht nur ein Vertrag zwischen zwei Staaten, der irgendwann einmal ausläuft.
Wie kamen Sie selbst zur Ulmer Ärzteinitiative?
Ich bin auf die Ärzteinitiative aufmerksam geworden, als diese 1983 ein Buch herausgegeben hatte mit dem Titel: „Tausend Grad Celsius – das Ulm-Szenario für einen Atomkrieg“. Darin beschrieben vier praktizierende Ulmer Ärzte ganz nüchtern und penibel, was passieren würde, wenn eine Megatonnen-Atombombe über Ulm gezündet werden würde – mit der Aussage: „Wir Ärzte werden Euch nicht helfen können.“In der damaligen Zeit hatte die deutsche Regierung noch den Irrglauben verbreitet, ein Atombombenangriff wäre überlebbar, wenn man sich nur eine Aktentasche über den Kopf hält oder sich unter einen Tisch verkriecht. Aktiv eingebracht in die Initiative habe ich mich als junger NeuUlmer Assistenzarzt und Vater von zwei kleinen Kindern nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Je mehr ich mich in die Problematik der radioaktiven Niedrigstrahlung eingearbeitet hatte, umso entsetzter bin ich geworden. Beruflich habe ich als niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin praktiziert und bin jetzt im Ruhestand.
Werden Sie es noch erleben: eine Welt ohne Atomwaffen?
Ich bin kein Hellseher und kann nicht vorhersehen, wann Ihnen oder mir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. Aber die Welt steckt auch voller positiver Möglichkeiten. Zum Beispiel hatte ich 1986 zu Beginn meiner politischen Aktivitäten es noch nicht abgesehen, dass Deutschland ohne Atomkraftwerke auskommen wird. Das AKW Gundremmingen wird Ende dieses Jahres als eines der letzten bundesdeutschen Atomkraftwerke vom Netz gehen.