Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Suche nach einem nuklearen Teufelsloch
TUTTLINGEN - Ein unterirdisches Atommüll-Endlager, möglicherweise sogar im Südwesten – dazu gibt es Fragen über Fragen: „Geht so etwas überhaupt in einem Erdbebengebiet?“Oder: „Ist das Trinkwasser bedroht?“Ganz starkes Interesse herrscht auch bei der Frage, ob sich der Müll überhaupt für die geplante eine Million Jahre sicher im Untergrund einschließen lässt. Nacheinander melden sich besorgte Bürger in der Videokonferenz am Dienstagabend. Sie ist vom baden-württembergischen Umweltministerium initiiert worden und soll den Auftakt zur Öffentlichkeitsinformation über die Suche nach einem finalen Platz für hoch radioaktive Abfälle machen.
Wegen Corona gab es keine Einladung in eine Stadthalle, dafür einen Platz am heimischen Rechner. Von dort aus lauern knapp 200 Teilnehmer auf die Aussagen von Experten oder möchten ihre Fragen loswerden. Sie kommen aus dem Regierungsbezirk Freiburg, ein Raum, der sich vom Oberrhein bis zur oberen Donau bei Tuttlingen erstreckt. Er ist zuerst mit der Infokonferenz dran.
Die Reihenfolge liegt am Alphabet. Es folgen an weiteren Tagen die Bezirke Karlsruhe, Stuttgart und Tübingen. Schließlich haben erste Untersuchungen der 2017 gegründeten Bundesgesellschaft für Endlagerung ergeben, dass knapp die Hälfte der baden-württembergischen Landesfläche eventuell einen passablen Untergrund für ein Endlager haben könnten. Ausgerechnet das Gebiet um die obere Donau herum war weitflächig aber schon bei früheren Studien mit im Spiel.
Deutschlandweit haben die Untersuchungen 54 Prozent des Bundesgebiets erfasst. Sie waren Ende September veröffentlicht worden – und stießen auf unterschiedliche Reaktionen: Staunen, Sorgen, Gelassenheit und ausgeprägten Unwillen. Letzterer wurde vor allem von der bayerischen Staatsregierung kundgetan. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung hatte nämlich die Mitteilung gewagt, dass zwei Drittel der weißblauen Gebiete potenziell für das Vergraben des Mülls geeignet sein könnten. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verlautbarte für seine Koalition mit den Freien Wählern sofort eine Ablehnung: „Wir sind überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager ist.“
Kurioserweise hat ausgerechnet Söders CSU den ersten Atomminister Deutschlands gestellt: den Gottvater der Partei, Franz Josef Strauß. Das war in den 1950er-Jahren. Atom galt noch als Lösung aller künftiger
Energieprobleme. Auf bayerischem Boden ging 1957 in Garching der erste Forschungsreaktor in Betrieb, 1960 bei Aschaffenburg dann auch der erste kommerzielle Nuklearmeiler Deutschlands. Angestoßen wurde damit jener Prozess, der nun dringend ein Endlager nötig macht: stark strahlende Abfallmengen, die laut Bundesgesellschaft für Endlagerung bis zum finalen Atomausstieg im nächsten Jahr 10 500 Tonnen wiegen – oder alternativ gerechnet 30 000 Kubikmeter umfassen. Genug um drei ausgedehnte Sporthallen zu füllen. Greenpeace schätzt die Menge noch wesentlich größer ein. Zusammengekommen ist sie aus 26 Kernkraftwerken und Dutzenden nuklearen Forschungseinrichtungen.
Für schwach bis mittelstark strahlenden Müll hat die Bundesrepublik den Schacht Konrad beim niedersächsischen Salzgitter gefunden. Die wesentlich gefährlicheren 10 500 stark strahlenden Tonnen müssen aber noch irgendwohin. Im Meer versenken, wie es einst etwa die Schweiz mit schwach strahlendem Abfall machen ließ, geht wegen der Ökogefahren überhaupt nicht mehr. Ins Weltall schießen wäre eine Option – zwar extrem teuer, aber theoretisch möglich. Sollte aber in der Praxis eine müllbeladene Rakete beim Start explodieren, würde dies eine kaum kalkulierbare Umweltkatastrophe bedeuten. Den atomaren Dreck in ein fernes Land exportieren? Dies wäre gegen internationales Recht.
Und die Atomreste einfach dort lassen, wo sie gegenwärtig sind? In den Zwischenlagern diverser Kernkraftwerke? Unsinn, sagen Experten wie Politiker. So ist der Müll beim nördlich von Stuttgart gelegenen Meilerstandort Neckarwestheim in einer Kaverne des dortigen ehemaligen Steinbruchs deponiert. In Gundremmingen östlich von Ulm liegen die nicht mehr benötigten Brennstäbe in einer verstärkten Lagerhalle auf dem Kraftwerksgelände. Der örtliche lautstarke Atomkraftgegner Raimund Kamm, ein ehemaliger Grünen-Abgeordneter im bayerischen Landtag, sieht darin einen Angriffspunkt für allerlei Terroristen.
Damit bleibt bloß das Vergraben. Mindestens 300 Meter unter der Oberfläche sollten die Kavernen für den Müll sein, lautet die Vorgabe. Einst wurde bei dieser unterirdischen Lösung an den Salzstock im niedersächsischen Gorleben gedacht. Davon abgesehen, dass der Ort nach unzähligen Protesten im ausgehenden 20. Jahrhundert als politisch verbrannt gilt, scheint auch die dortige Geologie anders als einst vermutet nicht für ein Endlager geeignet zu sein. Gorleben ist damit sozusagen aus dem Spiel.
Wobei die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor vier Jahren der Bundesgesellschaft für Endlagerung durchaus den Auftrag erteilt hat, ergebnisoffen nach einem Müllplatz zu suchen.
Im Gegensatz zu seinem bayerischen Kollegen hat der badenwürttembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Vorgabe ohne Einschränkung akzeptiert. Als im September die Landkarte mit der Vorauswahl möglicher Standorte eintraf, betonte der Grüne: „Geologie vor Geografie!“Der bestmögliche Standort dürfe nicht davon abhängen, ob es geografisch in den Kram passe.
Als geeignet für eine unterirdische Einlagerung halten Geologen mindestens 100 Meter dicke Schichten aus Salz, Ton oder kristalline Gesteine, etwa Granit – jedenfalls alles Gestein mit geringer Durchlässigkeit. Die obere Donau bietet sogar eine Auswahl: grob beschrieben nördlich Granit, südlich Ton. Die Qual der Wahl? In der Videokonferenz geht der Chef der Bundesgesellschaft für Endlagerung und einstige CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Kanitz nicht darauf ein. Er betont während der virtuellen Veranstaltung nur, der „sichere Einschluss“des Mülls müsse gewährleistet sein – und dies wegen der langen Halbwertszeit des gefährlichen Materials für die besagten eine Million Jahre.
Also, könnte man meinen, ist ein Strahlenmüll-Stollen generell nichts für ein Erdbebengebiet oder sonstige Regionen, die irgendwie im Untergrund instabil sein könnten oder durch die vielleicht Grundwasser rinnt und Atome ausspült. Manchem Videokonferenz-Teilnehmer fällt dazu gleich ein, dass das Hoch- und Oberrhein-Gebiet des Öfteren von leichteren Erdbeben heimgesucht werden. Im Hegau stehen für jeden anschaulich Vulkanreste in der bizarren Landschaft herum. Heißt das, der Kelch geht dort automatisch an den Leuten vorbei?
Mitnichten. Zum einen sind weite Gegenden dieser beschaulichen Regionen als potenziell brauchbar erfasst. Des Weiteren sieht Kanitz zum jetzigen Zeitpunkt keinen Grund, auf Optionen an Hoch- und Oberrhein zu verzichten. Der Nachbar Schweiz tut dies übrigens auch nicht. Im Gegenteil: Bei den Eidgenossen haben sich inzwischen drei mögliche Orte für ein Endlager herauskristallisiert. Sie liegen grenznah im östlichen Bereich des Hochrhein-Grabens zum Bodensee hin. Was zwischen Konstanz und Waldshut für Empörung sorgt. Bürgerinitiativen attackieren die Schweizer Pläne. Bürgermeister und Landräte stemmen sich dagegen. Das gemeinsame Motto: Man wolle nicht ans „Atomklo“der Eidgenossen angrenzen.
Mittelbar betroffen wäre auch die obere Donau. Von Tuttlingen bis zum nächsten potenziellen schweizerischen Endlagerort bei Benken unweit von Schaffhausen sind es nur rund 50 Kilometer. Aber offenbar reicht die Distanz aus, um die Gemüter abzukühlen. Hört man sich in der Stadt etwas um, scheinen die eidgenössischen Bemühungen sprichwörtlich hinter den Bergen zu liegen. Selbst die Vorstellung, Gebiet für die Suche nach einem Endlager zu sein, ist weit davon weg, bestimmendes Thema zu sein: „Ach was, das ist alles noch so weit weg“, ist allenthalben zu hören. Der Standort könne sonst wo sein. Dass die Wahl auf die obere Donau fallen könne, sei unwahrscheinlich.
Tuttlingens Oberbürgermeister Michael Beck (CDU) meint: „Ich halte jetzt nichts davon, reflexartig jeden möglichen Standort in der Nähe abzulehnen. Das wäre das reine Sankt-Florians-Prinzip. Ich erwarte aber, dass die Standortsuche nach objektiven Kriterien verläuft, dass das Verfahren transparent und für jeden nachvollziehbar durchgeführt wird – und dass nicht bestimmte Regionen von vornherein aus politischen Gründen ausgeschlossen werden.“In der Nachbargemeinde Immendingen sagt Bürgermeister Manuel Stärk, er könne nicht daran glauben, dass die Gegend fürs Endlagern infrage käme. Im Untergrund sei zu viel Bewegung, Dolinen, die Donauversickerung.
Wie es letztlich kommt, kann niemand abschätzen. So existiert weltweit noch kein Tiefenendlager. Es laufen nur Forschungen. Hier ist die Schweiz schon sehr weit. Sie betreibt dafür zwei Felsenlabore: eines in den Alpen, eines in der Jura. Deutsche Wissenschaftler sind beteiligt. Aber es gibt durchaus bei einigen Aspekten abweichende Vorstellungen. Das Nachbarland denkt nach einer Volksabstimmung zur Endlagerung daran, den Müll so zu lagern, dass er generell aus dem Untergrund zurückgeholt werden kann. Das Argument: Künftige Generationen wollten womöglich den energiereichen Abfall mittels neuer Kraftwerksmethoden wieder nutzen.
In Deutschland wäre ein solcher Gedanke alles andere als politisch korrekt und deshalb höchst umstritten. 500 Jahre soll allerdings noch ein Zugriff in die Kavernen möglich sein – vor allem mit Hinblick auf die Kontrolle der Lagerung. In der niedersächsischen Schachtanlage Asse wurden nämlich bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Eingelagerter schwach radioaktiver Müll muss wieder herausgeholt werden. Wasser dringt in den dortigen Salzstock ein. Kostenpunkt: rund sechs Milliarden Euro. Das Kalibergwerk Morsleben, einst von der DDR für schwach strahlenden Müll genutzt, ist einsturzgefährdet.
Solche Pannen will sich niemand mehr leisten. Kanitz von der Bundesgesellschaft für Endlagerung verweist während der Videokonferenz am Dienstagabend einmal mehr eindringlich darauf, dass jegliche Eventualitäten für das vorgesehene Tiefenlager in Erwägung gezogen werden sollen. Alles, was bisher geschehen sei, beruhe auf einem ersten Schritt: dem Auswerten vorliegender geologischer Arbeiten und Kenntnisse. Weitere Untersuchungen würden folgen – von der Frage der Gesteinsdurchlässigkeit bis hin zu Forschungsbohrungen und Machbarkeitsstudien.
Der Zeithorizont dafür reicht bis mindestens 2031. Davor soll es keine Entscheidung geben. Bis alles vorbereitet ist, um den ersten Müll zu vergraben, dürften weitere 20 Jahre vergehen. Eine Konferenzteilnehmerin fragt: „Ist sichergestellt, dass dann die Behälter für den Atommüll den Druck des Berges aushalten?“Kanitz sagt „ja“– mit der Einschränkung, dass sie mindestens für 500 Jahre halten, aber nicht für eine Million Jahre.