Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Auch kleine Kinder können Masken tragen“
Lernen am Computer überzeugt den Psychiater Manfred Spitzer nicht – Er fürchtet psychische Schäden bei Schülern und schlägt Unterricht in kleinen Gruppen vor
ULM - Die dauerhaften Schulschließungen findet Manfred Spitzer, Neurowissenschaftler und Psychiater am Universitätsklinikum Ulm, besorgniserregend. Warum er auch wenig von digitalem Unterricht hält, verrät er im Interview mit André Bochow.
Herr Professor Spitzer, die Schulen bleiben zunächst geschlossen. Was bedeutet das, unabhängig vom Lernen, psychisch für die Schülerinnen und Schüler?
Weniger Gemeinschaft bedeutet weniger Lebensfreude und Selbstvertrauen. Soziale Isolation durch geschlossene Schulen ist zwar nicht dasselbe wie Einsamkeit, kann aber zum Erleben von Einsamkeit führen. Wichtig ist, dass man beides unterscheidet. Es gibt Menschen, die ständig mit anderen zusammen sind und sich zugleich dauernd einsam erleben, und andere, die tatsächlich sehr wenig Kontakte haben, aber sich nicht einsam fühlen. Menschen lernen nicht nur in der Schule, sondern immer. Und junge Menschen lernen schneller als Ältere. Daraus folgt, dass Kinder und Jugendliche auch die Hilflosigkeit und den Verlust der Selbstbestimmung und Kontrolle über ihr eigenes Leben im Lockdown rascher lernen. Diese Reaktionen der gelernten Hilflosigkeit sind die klassischen psychologischen
Faktoren bei der Entstehung von Angststörungen und Depression. Hinzu kommt: Junge Menschen brauchen andere junge Menschen, um Mitgefühl zu entwickeln.
Sind die psychischen Auswirkungen vom Alter abhängig?
Ja. Ältere Menschen haben glücklicherweise auch mehr Lebenserfahrung, haben „schon viel durchgemacht“und haben auch langfristige funktionierende Kontakte, die sie wegen des Gebots der körperlichen Distanz eben zum Beispiel per Telefon wahrnehmen. Auch haben ältere Menschen einen anderen Zeithorizont, können also größere Zeiträume gedanklich überbrücken. Für Kinder und Jugendliche hingegen dauert schon eine Woche „ewig lang“, ihre
Kontakte sind oft schnelllebig, und sie haben weniger Erfahrungen, wie man eine Durststrecke durchsteht.
Als Alternative zum Präsenzunterricht wird vor allem digitales Lernen angeboten. Sie haben in der Vergangenheit diese Art der Wissensvermittlung grundsätzlich kritisiert. Warum eigentlich?
Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien hat gezeigt, dass Computer schlechtere Lehrer sind als Lehrer – insbesondere für schwächere Schüler. Genau dies hat sich jetzt im Lockdown wieder gezeigt, sonst hätten wir ja keine Probleme.
Und jetzt? Ist das Lernen am Computer nicht besser als gar kein Unterricht?
Eine große Studie an etwa 350 000 Schülern in Holland hat gezeigt, dass trotz sehr gutem Stand der Digitalisierung der Schulen dort und der seit Jahren bestehenden entsprechenden Erfahrungen die Schüler fast nichts gelernt haben. Das Argument, bei uns klappt es nur deshalb nicht, weil wir technisch oder fachlich noch nicht weit genug bei der Digitalisierung sind, trifft für die Niederlande nicht zu, schreiben die Autoren der Untersuchung. Mich persönlich wundert das Ergebnis nicht.
Befürchten Sie soziale Folgen der Schulschließungen? Schließlich wird es Schüler geben, die mithilfe der Eltern den Schulstoff trotz allem bewältigen und andere nicht.
Ja, das wird so sein. Und genau das ist ja auch das Problem: Schüler aus eher schwierigen Verhältnissen werden weniger Unterstützung haben und daher wird der Unterschied zwischen den guten und den schwächeren Schülern größer.
Nicht nur das Lernen läuft über Bildschirme, sondern auch die Begegnungen von Schülern mit Lehrern und Mitschülern. Ist es nicht ein Segen, dass wenigstens das möglich ist?
Erstens läuft das Lernen nicht gut bis gar nicht über Computer, und zweitens sind medial vermittelte soziale Kontakte nicht das Gleiche wie gemeinschaftliche Unmittelbarkeit im direkten Kontakt. „Medium“bedeutet „das Vermittelnde“, das heißt, es meint die Abwesenheit von Unmittelbarkeit. Selbstverständlich lässt sich immer eine Geschichte konstruieren, in der Kontakte über Computer etwas Positives hatten. Coca Cola ist ja auch lebensrettend, wenn man auf einer einsamen Insel gerade verdurstet und eine Kiste voller Limonade angeschwemmt wird. Das bedeutet aber keineswegs, das Coca Cola gesund ist oder gar gesünder als Wasser.
Es mangelt nicht an Versuchen, den Kindern und Jugendlichen wenigstens die Angst vor Misserfolgen zu nehmen.Je nach Bundesland werden Sitzenbleiben ausgesetzt, Prüfungen vereinfacht oder Klassenarbeiten freundlich bewertet. Sind das gute Ideen?
Junge Menschen erfahren durch Corona schon genug Einsamkeit, Kontrollverlust und Hilflosigkeit. All dies macht nachweislich Stress und der schadet dem Lernen und zugleich sogar dem Immunsystem, das man gegen Viren wie Corona braucht. Es folgt, dass wir zusätzliche Belastungen unbedingt vermeiden sollten.
Was halten Sie davon, Ferien zu streichen beziehungsweise zu verkürzen oder ein ganzes Schuljahr von allen nachholen zu lassen?
Man wird sicherlich darüber nachdenken müssen, wie man versäumte Schulzeit nachholen kann. Aber das wird nicht einfach sein.
Im Streit um Schulschließungen haben sich die Befürworter durchgesetzt. Heißt das, Schule und Lernen haben doch nicht die Priorität, die proklamiert wird?
Ich fürchte ja. Zehn Wochen Schulschließung, wie wir sie im letzten Frühjahr schon hatten und jetzt noch einmal haben, hinterlassen nahezu lebenslang Spuren in den Biografien der betroffenen Menschen: weniger Bildung, Lebenszeitverdienst und größere Wahrscheinlichkeit von psychischen Problemen oder gar Erkrankungen. Das ist recht gut erforscht. Wir wissen, dass es diese Schäden tatsächlich gibt. Aus meiner Sicht wäre ein reduzierter Unterricht – zum Beispiel in kleinen Gruppen, zwei bis drei Mal für zwei Stunden jede Woche – weniger schädlich gewesen und hätte nach allem, was wir wissen, das Infektionsgeschehen nicht wesentlich verändert. Zumal auch kleine Kinder Masken tragen können, wie uns in Asien vorgemacht wird.