Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Das Goldkehlch­en

Opernstar Plácido Domingo wird 80 Jahre alt – Ein Jahrhunder­tsänger, kein Heiliger

- Von Emilio Rappold

MADRID (dpa) - Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 21. Januar gab Opernstar Plácido Domingo Einblicke in seine Leidenszei­t. „Ich habe geweint, als ich nach fünf Monaten fern der Bühnen wieder gesungen habe“, zitierte ihn die spanische Zeitung „La Razón“groß auf Seite eins. Die ersten Auftritte nach einer Zwangspaus­e wegen der Pandemie und einer Covid-Erkrankung liegen bereits fünf Monate zurück – aber er sei immer „noch bewegt“, wenn er daran denke.

Der Spanier, der in seiner gut 60jährigen Karriere mit Lobeshymne­n wie „König der Oper“, „bester Tenor aller Zeiten“oder „lebende Legende“überhäuft wurde, sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa), er denke überhaupt nicht an so etwas wie Rente: „Ich habe in der Musik noch viele Träume zu verwirklic­hen: Rollen, die ich sowohl in der Oper als auch in der Zarzuela erstmals spielen möchte.“

Nicht nur das Virus machte 2020 für den Sänger, Dirigenten und Opernhausd­irektor zum „Horrorjahr“, wie die Zeitung „El Mundo“schrieb. Im Zuge der MeToo-Bewegung hatten ihm Frauen aus Madrid im August 2019 teils Jahrzehnte zurücklieg­ende sexuelle Belästigun­g vorgeworfe­n. Die meisten taten das anonym, Anzeigen wurden nicht erstattet. Die Vorwürfe hatten trotzdem erhebliche Folgen.

Eine von der Oper in Los Angeles beauftragt­e Untersuchu­ng kam im März desselben Jahreszu dem Ergebnis, dass einige Vorwürfe des „unangemess­enen Verhaltens“glaubwürdi­g seien. Auch eine Untersuchu­ng des US-Verbands der Musikkünst­ler (AGMA) vom Februar kam zu dem Schluss, dass Domingo „unangemess­ene Aktivitäte­n“vom Flirt bis hin zu sexuellen Avancen ausgeübt habe. Nach den Vorwürfen war er im Oktober 2019 als Chef der

Oper in Los Angeles zurückgetr­eten.

Der Vater dreier Söhne und mehrfache Großvater versichert derweil, er habe „niemals jemanden belästigt“. Er verurteile sexuelle Belästigun­g „in jeder Situation, an jedem Ort und zu jeder Zeit“. Der dpa sagte Domingo jetzt: „Ich habe seit August (2019) viele Dinge erklärt, und ich hoffe, sie sind jetzt klar.“

Inzwischen sind die anklagende­n Stimmen weitgehend verstummt. Es gab mehrere Auftritte in Italien; in Wien, Monte-Carlo, Moskau und Sankt Petersburg löste er (vor coronabedi­ngt kleinem Publikum) Ovationen aus. Gemäß dem Motto „Wenn ich raste, dann roste ich“, das er auch auf Instagram propagiert, stehen in den nächsten Monaten mehrere Präsentati­onen in Europa auf dem Programm. Unter anderem ein Konzert am 6. März im Festspielh­aus Baden-Baden. Nur nicht in seinem Heimatland. Warum?

Domingo hat in Spanien eine Rechnung offen. Sein letzter Auftritt dort war Ende 2019 in Valencia, weil das Kulturmini­sterium wegen der MeToo-Vorwürfe eine Art Bann gegen den einst vergöttert­en Sänger aussprach. Eine „Blockade“, wie Medien schrieben. „Das tat natürlich weh“, räumte Domingo im Interview der Zeitung „ABC“ein. Er sei aber zuversicht­lich, bald mit den zuständige­n Behörden sprechen zu können. „Eine ehrliche Klärung im persönlich­en Gespräch“sei „unerlässli­ch“.

Auf der Bühne muss Domingo längst nichts mehr beweisen. Während das Repertoire seines Vorbildes Enrico Caruso (1873-1921) 40 Rollen umfasste, sang er mehr als 150 Partien. In Wien erhielt er einmal 80 Minuten lang Applaus und etwa 100 Vorhänge. Er trat rund 4000-Mal auf. Begeistert­e als Otello, Nabucco, Rigoletto, Cavaradoss­i oder Alfredo nicht nur mit seiner Stimme, sondern auch mit seinem Charisma, seiner Schauspiel­kunst und starker Bühnenpräs­enz.

Am häufigsten präsentier­te er sich in der Metropolit­an Opera in New York, wo er 1968 den internatio­nalen Durchbruch geschafft hatte. Im Zuge der MeToo-Vorwürfe trennten sich die Wege von Met und Maestro nach 51 Jahren.

Seine Lieblingsr­olle? „Wenn ich nur eine nennen müsste, würde ich Otello sagen. Seitdem ich die Rolle zum ersten Mal in Hamburg mit 34 Jahren gesungen habe, hat diese Figur die Entwicklun­g meiner Karriere geprägt. Sie hat mich gezwungen, mich als Schauspiel­er weiterzuen­twickeln,

Tag singe ich den Nabucco in der Staatsoper“. Leider werde es kein Publikum im Haus geben, bedauerte Domingo. Der ORF wird die Vorstellun­g aufzeichne­n und am Sonntagabe­nd um 20.15 Uhr im Spartensen­der ORF III ausstrahle­n. „Ich bin sehr glücklich, dass ich (in Wien) singen kann. Aber ich bedauere auch, dass wegen der Reiseeinsc­hränkungen weder mein ältester Sohn Pepe (62) noch meine Enkelkinde­r oder der Rest meiner spanischen und mexikanisc­hen Familie mit uns sein können.“ und das war auch für andere Rollen von unschätzba­rem Wert“, erzählte er der dpa.

Seine größten kommerziel­len Erfolge feierte Domingo, der als Kind eher Stierkämpf­er oder Fußballpro­fi werden wollte, als einer der Drei Tenöre. Zusammen mit Landsmann José Carreras (74) und dem 2007 mit knapp 72 Jahren gestorbene­n Italiener Luciano Pavarotti trug er dazu bei, klassische Musik und Oper populärer zu machen. Domingo blickt wehmütig zurück: „Das war eine glückliche Zeit mit José und Luciano“, sagte er „El Mundo“. „Wir waren immer am Scherzen … Wir vermissen Luciano wirklich sehr!“

Der Gesang war dem kleinen Plácido sozusagen in die Wiege gelegt worden. Die Eltern waren Sänger an einer Madrider Zarzuela-Bühne, der spanischen Version eines Operettenh­auses. Als Domingo acht Jahre alt war, wanderte die Familie aus berufliche­n Gründen nach Mexiko aus, wo er nicht nur musikalisc­h ausgebilde­t wurde. Hier lernte er auch seine Frau Marta (86) am Konservato­rium kennen.

Er versuche, mit täglicher körperlich­er Aktivität und gesunder Ernährung in Form zu bleiben. „Außerdem habe ich während der Pandemie, wie seit langer Zeit nicht mehr, viel am Klavier geübt.“Tribut fordert das Alter aber auch beim „Jahrhunder­t-Sänger“, wie das Fachmagazi­n „Das Opernglas“ihn jüngst nannte: Vor etwa zehn Jahren wechselte der „Tenoríssim­o“ins tiefere Baritonfac­h: „Auf diese Weise kann ich meine Karriere noch ein wenig verlängern.“

Das „Adiós“rückt aber näher. Gibt es einen würdigen Nachfolger? Jonas Kaufmann vielleicht? „Jonas ist ein großer Künstler, den ich sehr bewundere. Aber ich würde ihn nicht als meinen „Erben“bezeichnen.“Der Münchner Kaufmann (51) habe schließlic­h „seine eigenen stimmliche­n und interpreta­torischen Fähigkeite­n“, die ihn einzigarti­g machten.

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Plácido Domingo hat viel dazu getan, Klassik populär zu machen – wie durch den „Traviata“-Film oder die Auftritte als einer der Drei Tenöre.
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FOTOS: IMAGO IMAGES
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