Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Neue Ideen für die Städte
Zehntausende Händler stehen vor dem Aus – Das muss aber nicht bedeuten, dass unsere Innenstädte veröden
Das Coronavirus beschleunigt viele Entwicklungen, die unterschwellig längst im Gang waren. Auch auf die Innenstädte kommt künftig einiges zu. Viele Läden werden schließen, Restaurants und Cafés zumachen, Friseure und andere Kleinunternehmer wird es ebenso treffen. Für jeden, der Pleite geht, ist das schmerzhaft und bedauerlich. Aber gibt es denn Chancen, die Stadtzentren vor Verödung zu schützen und sie wieder attraktiv zu machen?
Das Kaufen und Verkaufen hat die Städte groß werden lassen. Die Stadt war schon immer von Handel geprägt. Die Idee der Fußgängerzone wurde erst in den 1960er-Jahren geboren. Sie steht für die Vision des Wachstums durch Konsum. Aus dem Flaneur der Vorkriegszeit wurde der Schnäppchenjäger, der beim Schlussverkauf außer Rand und Band geriet. Das Glück lag darin, im Überfluss zu schwelgen, sich spontan Kleidung, Schuhe und andere Modeartikel zu kaufen, die oft unbenutzt im Schrank landeten. Abends aber ist die City mit ihren Boutiquen, Ketten und Filialen größtenteils tot, und zwar schon seit Jahren. Denn im Zentrum wird eingekauft und selten gewohnt und gelebt – das mag vielleicht in Ravensburg noch nicht so sein, aber in anderen Städten sehr wohl. Die hohen Mieten, die Einkaufszentren auf der grünen Wiese wie das boomende Internetshopping haben unsere Innenstädte bis zur Gesichtslosigkeit kommerzialisiert. Überall die gleiche Ware in den gleichen Läden – selbst die mittleren und kleineren Städte blieben von dieser Entwicklung nicht verschont.
Bisherige Strategien setzen darauf, die Funktionsvielfalt der Innenstädte zu stärken. Dazu zählen etwa gastronomische Angebote, Fitnessstudios, kulturelle Veranstaltungen oder Themenmärkte, die die Menschen ins Zentrum locken und Impulse für den verbliebenen Handel geben sollen. Das schreibt das Deutsche Institut für Urbanistik in einer Sonderveröffentlichung zur Stadtentwicklung in Corona-Zeiten. Angesichts der Pandemie wird die Wirksamkeit solcher Konzepte infrage gestellt. Denn die genannten Branchen sind vom Lockdown genauso betroffen wie der Einzelhandel. Laut dem Handelsverband Deutschland (HDE) sind schätzungsweise
50 000 Geschäfte von der Insolvenz bedroht und rund 250 000 Arbeitsplätze. Betroffen sind vor allem Läden von stationären Händlern.
Werden also die Zentren veröden? Wird nur noch Tristesse herrschen? Das muss nicht zwangsläufig so sei. Neues Denken ist gefragt. Architekten, Stadtplaner und Zukunftsforscher analysieren seit geraumer Zeit das Verhalten der Stadtbevölkerung während der Pandemie, um daraus zu lernen. Interessanterweise entstehen dabei neue Ideen mit Blick auf die Ursprünge.
Europäische Städte haben sich einst um Marktplatz, Rathaus und Kirche entwickelt. „Das am Gemeinwesen orientierte Stadtzentrum, auf das sich alle Ortsteile ausrichten, ist Kern des europäischen Selbstverständnisses, im räumlichen wie im politischen Sinne“, schrieb Kia Vahland vor einiger Zeit in der „Süddeutschen Zeitung“. Das heißt: Hier könnte auch die Zukunft der Stadt liegen, um krisenfester und zugleich lebenswerter zu werden und damit attraktiv zu bleiben.
Wenn die Leerstände bei den Immobilien in Zentrumslage zunehmen – und davon kann man ausgehen – könnten die Mietpreise sinken. Das eröffnet die Möglichkeit, mit neuen Nutzungsformen zu experimentieren. Cordelia Polinna zum Beispiel, Stadtforscherin und Geschäftsführerin des Berliner Beratungsunternehmens Urban Catalyst, die bundesweit Kommunen bei städtischen Veränderungsprozessen berät, hat in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“vorgeschlagen, dass dort, wo Leerstände entstehen, Kitas, Jugendzentren, Seniorentreffs, Kulturzentren oder andere wichtige öffentliche Einrichtungen die Lücken gewinnbringend für die Gesellschaft füllen. Wenn man bedenkt, wie gut beispielsweise vor Corona die Vesperkirchen in unserer Region von Jung und Alt angenommen wurden, dann könnte das funktionieren. Ob das auch finanziell möglich sein wird, die nötigen Investitionen dafür aufzubringen, bleibt abzuwarten.
Im Zukunftsinstitut von Matthias Horx entstand wiederum die Idee, ehemalige Konsumtempel zu Wohlfühloasen für bestimmte Zielgruppen umzubauen. Hier soll es dann nicht mehr nur ums Verkaufen gehen, sondern um Orte, an denen man sich gern trifft, um sich untereinander und mit engagiertem Personal auszutauschen. Ein Beispiel: Menschen, die auf einen gesunden Lebensstil achten, könnten mit einem Angebot an entsprechenden Lebensmitteln, Ernährungsberatungen, Koch- oder Fitnesskursen angesprochen werden. Shopping wäre dann nur eine Option von vielen.
Für andere leer stehende Gebäude, etwa überdimensionierte Bürobauten, ist auch eine komplette Umnutzung denkbar, vor allem der Umbau zu bezahlbaren Wohnungen. Wie groß der Bedarf in den Städten nach Wohnraum ist, zeigen die Sedelhöfe in Ulm, die im vergangenen Sommer eröffnet wurden.
Die Wohnungen im neuen Stadtquartier mit Blick aufs Münster waren schnell vermietet, während knapp die Hälfte der Ladenflächen bis heute brach liegt. Die Möglichkeit der Nachverdichtung, indem man vorhandenen Immobilien neues Leben einhaucht oder notfalls auch abreißt und neue Wohnquartiere
baut, hätte den Vorteil, dass unsere Landschaft nicht noch mehr zersiedelt würde. Zugleich könnte man zukunftsfähige Standards in Sachen urbanes Wohnen setzen.
Wissenschaftler wie Susanne Dürr, Professorin an der Fakultät für Architektur und Bauwesen der
Hochschule Karlsruhe, sind längst der Meinung, dass es bei der Stadtplanung künftig stärker um das Leben gehen muss, um die Verbindung von Arbeit, Freizeit und Familie. Sprich, wir brauchen einerseits eine Stadt, in der jeder seine Versorgung in greifbarer Nähe hat, in der alle Bedürfnisse vom Supermarkt über den Arzt und die Apotheke bis zur Schule in 15 Minuten zu Fuß erreichbar sind. Andererseits sollten es Wohnformen sein, die mehr Nutzungsflexibilität erlauben. Gemeint ist damit eine gute Mischung aus kleinen und großen Wohnungen mit veränderbaren Grundrissen, die bei Bedarf Wohnen und Arbeiten im Homeoffice ermöglichen und zugleich ausreichend Rückzugsmöglichkeiten bieten. Zusätzlich sollten sich Gemeinschaftsräume im Haus befinden. Vorbildcharakter haben sogenannte Cluster-Wohnungen. Hier hat jeder Bewohner sein eigenes Apartment, doch bestimmte Räume werden von allen genutzt. Stadtplaner sprechen vom „resilienten Leben im Quartier“.
Im Idealfall sind solche Mehrfamilienhäuser auf genossenschaftlicher Basis organisiert und bieten Wohnraum für Menschen mit unterschiedlichem Geldbeutel, generationenübergreifend und barrierefrei. Kommunen können so eine Entwicklung natürlich forcieren. Mehr bezahlbaren Wohnraum in Innenstädten zu schaffen, bedeuten aber auch Neuerungen und Lockerungen im Baurecht. Wenn Architekten und Stadtplaner behutsam vorgehen, kann das Nebeneinander von malerischen Alt- und kreativen Neubauten den Charakter einer Innenstadt auch aufwerten. Zugleich plädieren Experten für ausgewiesene Kernzonen, in denen der Einzelhandel Vorrang hat. Denn wenn in der City wieder gewohnt und gelebt wird, dann werden auch die Geschäfte, die Restaurants, Cafés, Kinos oder Angebote von Kulturschaffenden und vieles mehr wieder ihren Platz finden.
Darüber hinaus gibt es noch eine weitere interessante Erkenntnis aus den Analysen zur Pandemie: Menschen, die über einen Balkon oder einen Garten verfügen, können Krisen besser meistern. Deshalb sind fußläufig erreichbare Parks und Grünflächen „eine ganz wichtige Qualität von Stadt“, so sagt Cordelia Polinna von Urban Catalyst in dem Gespräch mit dem „Deutschlandfunk“.
Die Zeichen in unseren Städten stehen auf Veränderung. Eine Zwangspause wie die Pandemie bietet Gelegenheit, um Inventur zu machen und zu schauen, was wir wirklich brauchen.