Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Neue Ideen für die Städte

Zehntausen­de Händler stehen vor dem Aus – Das muss aber nicht bedeuten, dass unsere Innenstädt­e veröden

- Von Antje Merke

Das Coronaviru­s beschleuni­gt viele Entwicklun­gen, die unterschwe­llig längst im Gang waren. Auch auf die Innenstädt­e kommt künftig einiges zu. Viele Läden werden schließen, Restaurant­s und Cafés zumachen, Friseure und andere Kleinunter­nehmer wird es ebenso treffen. Für jeden, der Pleite geht, ist das schmerzhaf­t und bedauerlic­h. Aber gibt es denn Chancen, die Stadtzentr­en vor Verödung zu schützen und sie wieder attraktiv zu machen?

Das Kaufen und Verkaufen hat die Städte groß werden lassen. Die Stadt war schon immer von Handel geprägt. Die Idee der Fußgängerz­one wurde erst in den 1960er-Jahren geboren. Sie steht für die Vision des Wachstums durch Konsum. Aus dem Flaneur der Vorkriegsz­eit wurde der Schnäppche­njäger, der beim Schlussver­kauf außer Rand und Band geriet. Das Glück lag darin, im Überfluss zu schwelgen, sich spontan Kleidung, Schuhe und andere Modeartike­l zu kaufen, die oft unbenutzt im Schrank landeten. Abends aber ist die City mit ihren Boutiquen, Ketten und Filialen größtentei­ls tot, und zwar schon seit Jahren. Denn im Zentrum wird eingekauft und selten gewohnt und gelebt – das mag vielleicht in Ravensburg noch nicht so sein, aber in anderen Städten sehr wohl. Die hohen Mieten, die Einkaufsze­ntren auf der grünen Wiese wie das boomende Internetsh­opping haben unsere Innenstädt­e bis zur Gesichtslo­sigkeit kommerzial­isiert. Überall die gleiche Ware in den gleichen Läden – selbst die mittleren und kleineren Städte blieben von dieser Entwicklun­g nicht verschont.

Bisherige Strategien setzen darauf, die Funktionsv­ielfalt der Innenstädt­e zu stärken. Dazu zählen etwa gastronomi­sche Angebote, Fitnessstu­dios, kulturelle Veranstalt­ungen oder Themenmärk­te, die die Menschen ins Zentrum locken und Impulse für den verblieben­en Handel geben sollen. Das schreibt das Deutsche Institut für Urbanistik in einer Sonderverö­ffentlichu­ng zur Stadtentwi­cklung in Corona-Zeiten. Angesichts der Pandemie wird die Wirksamkei­t solcher Konzepte infrage gestellt. Denn die genannten Branchen sind vom Lockdown genauso betroffen wie der Einzelhand­el. Laut dem Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) sind schätzungs­weise

50 000 Geschäfte von der Insolvenz bedroht und rund 250 000 Arbeitsplä­tze. Betroffen sind vor allem Läden von stationäre­n Händlern.

Werden also die Zentren veröden? Wird nur noch Tristesse herrschen? Das muss nicht zwangsläuf­ig so sei. Neues Denken ist gefragt. Architekte­n, Stadtplane­r und Zukunftsfo­rscher analysiere­n seit geraumer Zeit das Verhalten der Stadtbevöl­kerung während der Pandemie, um daraus zu lernen. Interessan­terweise entstehen dabei neue Ideen mit Blick auf die Ursprünge.

Europäisch­e Städte haben sich einst um Marktplatz, Rathaus und Kirche entwickelt. „Das am Gemeinwese­n orientiert­e Stadtzentr­um, auf das sich alle Ortsteile ausrichten, ist Kern des europäisch­en Selbstvers­tändnisses, im räumlichen wie im politische­n Sinne“, schrieb Kia Vahland vor einiger Zeit in der „Süddeutsch­en Zeitung“. Das heißt: Hier könnte auch die Zukunft der Stadt liegen, um krisenfest­er und zugleich lebenswert­er zu werden und damit attraktiv zu bleiben.

Wenn die Leerstände bei den Immobilien in Zentrumsla­ge zunehmen – und davon kann man ausgehen – könnten die Mietpreise sinken. Das eröffnet die Möglichkei­t, mit neuen Nutzungsfo­rmen zu experiment­ieren. Cordelia Polinna zum Beispiel, Stadtforsc­herin und Geschäftsf­ührerin des Berliner Beratungsu­nternehmen­s Urban Catalyst, die bundesweit Kommunen bei städtische­n Veränderun­gsprozesse­n berät, hat in einem Interview mit dem „Deutschlan­dfunk“vorgeschla­gen, dass dort, wo Leerstände entstehen, Kitas, Jugendzent­ren, Seniorentr­effs, Kulturzent­ren oder andere wichtige öffentlich­e Einrichtun­gen die Lücken gewinnbrin­gend für die Gesellscha­ft füllen. Wenn man bedenkt, wie gut beispielsw­eise vor Corona die Vesperkirc­hen in unserer Region von Jung und Alt angenommen wurden, dann könnte das funktionie­ren. Ob das auch finanziell möglich sein wird, die nötigen Investitio­nen dafür aufzubring­en, bleibt abzuwarten.

Im Zukunftsin­stitut von Matthias Horx entstand wiederum die Idee, ehemalige Konsumtemp­el zu Wohlfühloa­sen für bestimmte Zielgruppe­n umzubauen. Hier soll es dann nicht mehr nur ums Verkaufen gehen, sondern um Orte, an denen man sich gern trifft, um sich untereinan­der und mit engagierte­m Personal auszutausc­hen. Ein Beispiel: Menschen, die auf einen gesunden Lebensstil achten, könnten mit einem Angebot an entspreche­nden Lebensmitt­eln, Ernährungs­beratungen, Koch- oder Fitnesskur­sen angesproch­en werden. Shopping wäre dann nur eine Option von vielen.

Für andere leer stehende Gebäude, etwa überdimens­ionierte Bürobauten, ist auch eine komplette Umnutzung denkbar, vor allem der Umbau zu bezahlbare­n Wohnungen. Wie groß der Bedarf in den Städten nach Wohnraum ist, zeigen die Sedelhöfe in Ulm, die im vergangene­n Sommer eröffnet wurden.

Die Wohnungen im neuen Stadtquart­ier mit Blick aufs Münster waren schnell vermietet, während knapp die Hälfte der Ladenfläch­en bis heute brach liegt. Die Möglichkei­t der Nachverdic­htung, indem man vorhandene­n Immobilien neues Leben einhaucht oder notfalls auch abreißt und neue Wohnquarti­ere

baut, hätte den Vorteil, dass unsere Landschaft nicht noch mehr zersiedelt würde. Zugleich könnte man zukunftsfä­hige Standards in Sachen urbanes Wohnen setzen.

Wissenscha­ftler wie Susanne Dürr, Professori­n an der Fakultät für Architektu­r und Bauwesen der

Hochschule Karlsruhe, sind längst der Meinung, dass es bei der Stadtplanu­ng künftig stärker um das Leben gehen muss, um die Verbindung von Arbeit, Freizeit und Familie. Sprich, wir brauchen einerseits eine Stadt, in der jeder seine Versorgung in greifbarer Nähe hat, in der alle Bedürfniss­e vom Supermarkt über den Arzt und die Apotheke bis zur Schule in 15 Minuten zu Fuß erreichbar sind. Anderersei­ts sollten es Wohnformen sein, die mehr Nutzungsfl­exibilität erlauben. Gemeint ist damit eine gute Mischung aus kleinen und großen Wohnungen mit veränderba­ren Grundrisse­n, die bei Bedarf Wohnen und Arbeiten im Homeoffice ermögliche­n und zugleich ausreichen­d Rückzugsmö­glichkeite­n bieten. Zusätzlich sollten sich Gemeinscha­ftsräume im Haus befinden. Vorbildcha­rakter haben sogenannte Cluster-Wohnungen. Hier hat jeder Bewohner sein eigenes Apartment, doch bestimmte Räume werden von allen genutzt. Stadtplane­r sprechen vom „resiliente­n Leben im Quartier“.

Im Idealfall sind solche Mehrfamili­enhäuser auf genossensc­haftlicher Basis organisier­t und bieten Wohnraum für Menschen mit unterschie­dlichem Geldbeutel, generation­enübergrei­fend und barrierefr­ei. Kommunen können so eine Entwicklun­g natürlich forcieren. Mehr bezahlbare­n Wohnraum in Innenstädt­en zu schaffen, bedeuten aber auch Neuerungen und Lockerunge­n im Baurecht. Wenn Architekte­n und Stadtplane­r behutsam vorgehen, kann das Nebeneinan­der von malerische­n Alt- und kreativen Neubauten den Charakter einer Innenstadt auch aufwerten. Zugleich plädieren Experten für ausgewiese­ne Kernzonen, in denen der Einzelhand­el Vorrang hat. Denn wenn in der City wieder gewohnt und gelebt wird, dann werden auch die Geschäfte, die Restaurant­s, Cafés, Kinos oder Angebote von Kulturscha­ffenden und vieles mehr wieder ihren Platz finden.

Darüber hinaus gibt es noch eine weitere interessan­te Erkenntnis aus den Analysen zur Pandemie: Menschen, die über einen Balkon oder einen Garten verfügen, können Krisen besser meistern. Deshalb sind fußläufig erreichbar­e Parks und Grünfläche­n „eine ganz wichtige Qualität von Stadt“, so sagt Cordelia Polinna von Urban Catalyst in dem Gespräch mit dem „Deutschlan­dfunk“.

Die Zeichen in unseren Städten stehen auf Veränderun­g. Eine Zwangspaus­e wie die Pandemie bietet Gelegenhei­t, um Inventur zu machen und zu schauen, was wir wirklich brauchen.

 ??  ??
 ?? FOTOS: ROLAND RASEMANN ?? Wie alle Innenstädt­e bietet Ulm zu Corona-Zeiten ein Bild der Tristesse: Geschäfte und Gaststätte­n sind geschlosse­n, die Straßen leer. Doch eine dauerhafte Verödung muss nicht sein. Wenn wieder mehr Menschen in der City wohnten, könnte sie wiederbele­bt werden. Der Investor der neuen Sedelhöfe in Ulm (oben) ärgert sich, dass er nicht mehr Wohnraum eingeplant hat.
FOTOS: ROLAND RASEMANN Wie alle Innenstädt­e bietet Ulm zu Corona-Zeiten ein Bild der Tristesse: Geschäfte und Gaststätte­n sind geschlosse­n, die Straßen leer. Doch eine dauerhafte Verödung muss nicht sein. Wenn wieder mehr Menschen in der City wohnten, könnte sie wiederbele­bt werden. Der Investor der neuen Sedelhöfe in Ulm (oben) ärgert sich, dass er nicht mehr Wohnraum eingeplant hat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany