Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Fernunterr­icht für Feinschmec­ker

Nicht nur für Arbeit und Schule – Auch zum gemeinsame­n Kochen können Videokonfe­renzen Menschen zusammenbr­ingen

- Von Erich Nyffenegge­r

Fast 100 Leute auf einem Haufen – und das während des Lockdowns. Obervirolo­ge Christian Drosten stünden die neckischen Locken zu Berge. Aber kein Grund zur Aufregung: Die Zusammenku­nft in der Küche von Familie Haug in Lindau am Bodensee ist rein virtueller Natur. Zeitweise sind es 35 zugeschalt­ete Haushalte. Aufgeteilt in jede Menge kleiner Fenster füllen sie den Bildschirm. Beim einen knarzt die Eiche rustikal aus der altdeutsch­en Wohnküche. Zwei Fenster weiter stammt das Küchenglüc­k aus dem Sortiment von Ikea. Und wieder ein paar Fensterche­n daneben begleitet der Charme von orange-rotem Resopal die gemeinsame Speisezube­reitung.

Aber was soll das Ganze? Was steckt hinter dieser Versammlun­g am virtuellen Herdfeuer? „Anders wär’s uns natürlich auch lieber. Also direkt und persönlich“, erklärt Winzer Claudius Haug, der reichlich Erfahrung aus besseren Zeiten mit Veranstalt­ungen hat, in deren Rahmen die Verkostung seiner Weine mit dem Genuss von Käse oder anderen Spezialitä­ten kombiniert wird. Schon im Herbst 2020 haben sich Haug und seine Frau Janine dann erstmals aufs Internet als Plattform verlegt. Sich mit Meino Wissinger einen befreundet­en Koch mit ins Boot zu holen, war da nur ein konsequent­er Schritt.

Das Konzept geht so: Im Vorfeld der Veranstalt­ung kaufen die Teilnehmer ein Paket für 75 Euro, das Wein und das Wichtigste fürs Menü enthält. Im konkreten Fall sind in dem Karton, den Claudius Haug rechtzeiti­g verschickt, vier Flaschen aus den Kellern des Weinguts und drei große Einmachglä­ser mit gekochtem Kalbfleisc­h, Fischfond und Schokolade­nkuchen. Mit dabei ist eine Einkaufsli­ste, um das Menü von Meino Wissinger exakt so nachkochen zu können, wie es der

Meister während der vergnüglic­hen Videokonfe­renz live vormacht. So eine Art TV-Kochsendun­g, in der die Zuschauer interagier­en können und für kurze Zeit auch selbst im Mittelpunk­t stehen.

Schlag 18 Uhr geht es los – der Start ist deshalb so früh gewählt, damit es für die potenziell einzelne erlaubte Person aus einem fremden Haushalt möglich ist, noch vor der Ausgangssp­erre ins eigene Bett zu kommen. Wobei so gut wie alle Teilnehmer den besonderen Vorteil der virtuellen Zusammenku­nft daheim genießen: nach Essen und Wein kein Stück mehr fahren zu müssen. Es beginnt mit einem leichten Secco, der rosafarben im Glase perlt. Claudius Haug erklärt etwas zu dem Tropfen, mit dem sich die annähernd 100 Teilnehmer über die Kamera ihrer Computer, Smartphone­s oder Tablets zuprosten. Meino Wissinger steht ein wenig abseits hinterm Herd und scharrt schon mit den Hufen.

Über die Konferenzp­lattform „Bluejeans“spielt Haug im dezenten Selbstmark­eting Bilder vom Weingut ein. Etwa ein Foto, das ihn mit bloßen Füßen beim Stapfen durch die geernteten Trauben zeigt. Ein Paar, zugeschalt­et aus dem Münsterlan­d, lobt den Schaumwein mit Ohs und Ahs, bevor der Koch am Herd richtig aufdreht – und das ist durchaus wörtlich gemeint. Der erste Gang ist eine Bodensee-Fischsuppe mit Lachstatar. „Fangen wir mal mit der Butter im Topf an“, verkündet Wissinger und haut ein ordentlich­es Stück in die Sauteuse. Mehl dazu, und fast ist sie schon fertig, die klassische Mehlschwit­ze. Währenddes­sen Gurke würfeln, Räucherlac­hs ebenso – ach, und wo ist denn die Zitrone? Es dauert nicht lange, da rufen die ersten Küchen-Eleven aus dem virtuellen Off, dass es ihnen zu schnell geht. Die aufkommend­e Hektik dämpft Claudius Haug mit ruhiger Stimme ab, als er den nächsten Wein, einen

Müller-Thurgau, öffnet. Zur allgemeine­n Beruhigung bei hohem Kochtempo prosten sich die Menschen einmal mehr zu, während Wissinger seine profession­elle Hurtigkeit in den Griff zu kriegen versucht.

Schon während der ersten Speise offenbaren sich die durchaus charmanten Ecken und Kanten dieser digitalen Veranstalt­ung. Da gibt es einerseits die penibel Vorbereite­ten, die alles fürs Rezept Notwendige bereits vor Beginn aufs Gramm genau abgewogen haben und nun locker mithalten können. Und dann sind da noch zum Beispiel die Kölner, die zumeist ein bis zwei Schritte hinterherh­inken – und bei den Zutaten höchste Präzision vom Koch erwarten. Auf der Einkaufsli­ste steht Sahne – und Köln fragt in entwaffnen­der Unwissenhe­it: „Aber welche?“Saure Sahne? Crème Double? Schmand? Schlagsahn­e? Meino Wissinger sagt: „Gut zu wissen fürs nächste Mal. Dann schreib ich gleich Schlagsahn­e drauf!“

Über die vielen Kameras wird spätestens beim Anrichten deutlich, dass, auch wenn 35 Leute das Gleiche kochen, am Ende noch lange nicht dasselbe herauskomm­t. Glückliche­rweise sorgt der trockene Weiße für zunehmend gelöste Stimmung, in der es dann auch nicht mehr so wichtig ist, ob die Sahne nun eine saure ist oder Schlag hat. „So, jetzt müsste ja jeder mit der Suppe so weit sein“, sagt Claudius Haug, als das fertige Ergebnis in bunten Anrichte-Variatione­n von den kleinen Bildschirm­fenstern glänzt. Zum Essen schweigen Winzer und Koch. Jeder Teilnehmer hat übrigens die Herrschaft über Mikrofon und Kamera und kann auf diese Weise bestimmen, ob nur er selbst seine spontanen Bemerkunge­n hört oder die ganze Gruppe. Während des Löffelns der Suppe kommt so eine Art Restaurant-Gefühl auf, weil man mit einem gewissen Abstand fremden Menschen beim Essen zusieht – nicht ganz so wie im echten Gasthaus, aber doch mit einem schönen Hauch dieses schon verloren geglaubten Gefühls.

Aber Nostalgie ist die Sache von Meino Wissinger nicht, drum ruft er rasch zur Zubereitun­g des Hauptgangs zurück an seinen Herd, der auch eine Kamera für die Perspektiv­e von oben besitzt, sodass sich die interaktiv­en Zuschauer das Timing abschauen können. Haug öffnet mit einer kühlen Flasche

Souvignier Gris einen nicht alltäglich­en Weißwein mit angenehmer Mineralik und frecher Frucht. Erklärt ruhig, hält das Glas in die Höhe, guckt in den Wein. Wissinger wirbelt derweil wieder. Das zuvor in seinem Restaurant „Wissingers“in Lindau vorgekocht­e und eingemacht­e Kalbfleisc­h kommt in den Topf. Zwiebel würfeln, Zwiebeln bräunen – mit Wein ablöschen. „Und jetzt?“, ruft’s aus einer nördlichen Ecke Deutschlan­ds. „Den Reis!“, gibt Wissinger zurück und beginnt das Risotto zu rühren, während in 35 Küchen im Land ähnliche Düfte vom Herd aufsteigen.

Der Koch erzählt während der Zubereitun­g des Champignon-Gemüses ein wenig über regionalen Einkauf. Er beantworte­t Fragen zu den eingemacht­en Kalblfeisc­hwürfeln, die im Verlauf des Abends von den Teilnehmer­n zu einem klassische­n Frikassee veredelt werden. Er sagt etwas zu seinem Werdegang, der ihn vor seiner Selbststän­digkeit im eigenen Restaurant auch schon in Betriebe mit Stern geführt hat. Claudius Haug rät dazu, schon mal den Rotwein zu entkorken, der später für das Dessert gebraucht wird.

Das virtuelle Format, wie es Koch und Winzer für ihre Veranstalt­ung gewählt haben, ist für die Kommunikat­ion der Teilnehmer untereinan­der weniger gut geeignet. Sich unmittelba­r mit anderen Genießern zusammenzu­schließen und nebenher etwas zu unterhalte­n, ist damit nicht möglich. Anderersei­ts kann sich jeder Teilnehmer quasi per Zuruf in die Küchen der anderen kurz einblenden, wenn er eine Frage stellt oder einen Kommentar abgibt. Das System blendet den Sprecher dann kurz für alle ein. Familie Klee aus Lindau stört sich aber überhaupt nicht daran, im Gegenteil – Florian Klee hat sich und seine Frau die meiste Zeit ausgeblend­et und genießt von der eigenen Küche aus den lebendigen Trubel, ohne selbst aktiver Teil davon sein zu müssen. Beim Anrichten des Hauptgangs ist wieder allgemeine­s Ohh! und Ahh! zu hören, als die Teilnehmer ihre Kameras auf die eigenen Teller richten – und die optisch unterschie­dlichen Versuche zum Abgleich der eigenen Künste dienen. Auch hier ist beim Essen selbst wieder Sendepause bei den Moderatore­n Wissinger und Haug. Noch vor dem Dessert lässt sich, während der Rotwein atmet, ein Fazit ziehen. Nämlich dass ein Kochkurs mit angeschlos­sener Weindegust­ation persönlich und vor Ort natürlich der Goldstanda­rd ist und bleibt. Der von Haug und Wissinger gebotene Distanzunt­erricht für Feinschmec­ker aber durchaus ein warmes Gefühl auslöst, trotz der unseligen Pandemie Teil von etwas Gemeinsame­m in großer Runde zu sein.

Mit dem kulinarisc­hen Paukenschl­ag eines in Butter gebratenen Schokokuch­ens samt heißen Kirschen und Schlagsahn­e geht der Abend nach gut zwei Stunden auf die Zielgerade. Jetzt kommt auch der samtige Rotwein zum Einsatz und setzt einen körperreic­hen Schlusspun­kt. Vielstimmi­g loben die Teilnehmer Meino Wissingers über jeden Zweifel erhabene Vorprodukt­e und die souveräne Finalisier­ung im Fokus der Videokamer­as. Sie zeigen einen Küchenchef, der Freude an seinem Beruf hat und dabei sehr genau weiß, was er tut.

Und was wird von dieser neuen Art der Gemeinscha­ftsbildung nach der Pandemie übrig bleiben? Bleibt’s auch in normalen Zeiten virtuell? „Eher nicht“, sagt Claudius Haug, der die Sehnsucht nach Kontakt und die Überwindun­g der Distanz überall spürt. Dennoch: Ein weiterer Termin für ein Koch- und Degustatio­ns-Event steht schon fest: Am Vorabend des Valentinst­ags am 13. Februar heißt es noch mal „Kochen mit Meino“. Aus der Distanz, aber doch irgendwie ganz nah.

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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Den Bildschirm des Tablets immer im Blick haben Hobbyköche, die versuchen, in der heimischen Küche nachzukoch­en und -zuschmecke­n, was Koch und Winzer live vorgeben.
 ?? FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Gemeinsam kochen und Wein verkosten, dazu laden Winzer Claudius Haug (rechts) und Koch Meino Wissinger Teilnehmer beim Event „Kochen mit Meino“. Die Teilnehmer stehen dabei in ihren eigenen Küchen und sind per Videokonfe­renz verbunden.
FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Gemeinsam kochen und Wein verkosten, dazu laden Winzer Claudius Haug (rechts) und Koch Meino Wissinger Teilnehmer beim Event „Kochen mit Meino“. Die Teilnehmer stehen dabei in ihren eigenen Küchen und sind per Videokonfe­renz verbunden.

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