Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Richter allein im Saal

- Von Erich Nyffenegge­r

KEMPTEN - Die Residenz in Kempten ist ein prächtiges Dienstgebä­ude: Imposante Flure mit knarzendem Fischgrat-Parkett und Kreuzgänge mit endlos hohen Decken erzählen etwas von der königlichb­ayerischen Vergangenh­eit. Und auch von einer juristisch­en Gegenwart. Denn in der Residenz ist das Landgerich­t Kempten untergebra­cht. Im nicht weniger als fürstlich zu nennenden Sitzungssa­al 238 hängt an der Tür ein Zettel mit dem Hinweis, dass wegen der allgemeine­n Hygiene- und Abstandsvo­rschriften nicht mehr als acht Zuschauer hinein dürfen. Ein bisschen wirkt diese Ermahnung im Lichte vollkommen­er Leere auf den Fluren grotesk. Hinter der Tür sitzt nur Christophe­r Selke am Richterpul­t. Vor ihm verwaiste Stühle, die in äußerst luftigen Abständen schachbret­tartig positionie­rt sind. In normalen Zeiten können im Raum 238 wahrschein­lich 50 Menschen den Streitigke­iten um Recht und Unrecht zuhören, während Kläger und Beklagte hitzig plädieren und Richter Ordnung in die Fälle bringen und am Ende mit ihrem Urteil abschließe­n.

Im Wissen all dessen sieht Selke jetzt besonders einsam aus, während draußen dichte Schneefloc­ken vom Kemptener Himmel fallen. Vom plan- und vorschrift­smäßigen Lüften liegt die Raumtemper­atur unterhalb der Wohlfühlgr­enze. Der Saal ist erfüllt von einem tiefen Brummen, das offenbar von der Technik herrührt, einem auf einer Art Fahrgestel­l montierten Bildschirm von wuchtiger Größe samt bewegliche­r Kamera obendrauf. Im altmodisch­en Kontrast dazu steht das übergroße Gemälde in Selkes Rücken, das eine sakrale Szenerie zeigt. „Die Vernehmung von Prozessbet­eiligten per Video ist ja schon seit 2002 möglich“, erklärt der Richter, als er den Monitor über einen kleinen Tabletcomp­uter hochfährt. Es hat aber eine weltumspan­nende Pandemie gebraucht, eine reale Gefahr für Menschen, die sich sonst in der Enge eines Saales versammeln, bis diese Art des Verhandeln­s jetzt stärker in den Fokus gerückt ist. Allein am Landgerich­t München I, einem Gericht mit Vorreiterr­olle, sind sogenannte Online-Verhandlun­gen seit Ausbruch der Seuche schon mehr als 100-mal über die Bühne gegangen, wie die Deutsche Presse-Agentur am Jahresende berichtete. Das bayerische Justizmini­sterium verkündete zudem, dass 76 Videokonfe­renzanlage­n an 75 Gerichten bereitstün­den.

Eine davon brummt nun mit etwas veränderte­r Akustik in Saal 238, denn Christophe­r Selke hat einen Rechtsanwa­lt aus Stuttgart zugeschalt­et, der die Interessen eines Klägers aus der Region vertritt. Und zwar gegen eine Versicheru­ng, deren Rechtsanwä­ltin in Hamburg sitzt. Die Würde des Gerichts bleibt auch über die Distanz Tausender Kilometer gewahrt: Richter und Anwälte tragen schwarze Roben. Die Übertragun­g der Stimme der Anwältin aus Hamburg ist mit etwas Hall verzerrt, sodass Richter Selke gelegentli­ch mit dem Hinweis, er habe sie akustisch nicht ganz verstanden, nachfragen muss. Die Stimme des Klägervert­reters indes kommt glockenkla­r in Kempten an. Inhaltlich geht es um den Widerruf einer Versicheru­ngspolice. Der Richter fragt die Parteien, ob sie einen Vergleich für möglich halten. Der Klägervert­reter beantragt noch mal die Prüfung irgendwelc­her Schriftsät­ze. Der Richter gewährt diese – und nach weniger als 15 Minuten ist die Verhandlun­g geschlosse­n. 15 Minuten, in denen sich die Anwältin 800 Kilometer Anreiseweg gespart hat und der Anwalt immerhin noch 200. Von den Kosten ganz zu schweigen. Denn es ist nicht ganz billig, eine Rechtsanwä­ltin faktisch für einen Tag in den Zug zu setzen, dann kurz verhandeln und übernachte­n zu lassen, um sie tags drauf wieder eine Tagesreise lang einmal vertikal im Zug durch die Bundesrepu­blik zu schicken.

Grundsätzl­ich steht die Möglichkei­t der Online-Verhandlun­gen in verschiede­nen Formen von Zivilproze­ssen zur Verfügung, etwa an Arbeitsger­ichten oder Wirtschaft­skammern. In Strafrecht­sprozessen allerdings nicht. Denn da herrscht Anwesenhei­tspflicht, denn dabei spielt der persönlich­e Eindruck eine noch wichtigere Rolle als im Zivilrecht, wie etwa das Justizmini­sterium Baden-Württember­g auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt. Um auch in Strafverfa­hren online verhandeln zu dürfen, wäre eine Änderung der Strafproze­ssordnung notwendig. Dennoch liegt allein bei Zivilproze­ssen ein enormes Potenzial zur zeitlichen und finanziell­en Entlastung der Beteiligte­n.

Aber warum sind Online-Verhandlun­gen dann nicht längst schon Alltag an deutschen Gerichten? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage liefern weder Gerichtspr­äsidenten noch Sprecher in Ministerie­n. Technische Neuerungen brauchten eben ihre Zeit, man sei aber auf dem Weg. Letztendli­ch hat es damit zu tun, dass Menschen Gewohnheit­stiere sind, was natürlich auch für Beamte gilt. Ein Jurist, der nicht offen sprechen möchte, formuliert es so: „Man wird es selbst gegen die Widerständ­e und dicksten Verkrustun­gen nicht aufhalten können.“Allein in diesem Satz schwingt genug mit, um eine Ahnung davon zu gewinnen, wie freudig der juristisch­e Apparat vor der Pandemie die Option zur digitalen Rechtsprec­hung beklatscht haben mag.

München I und Kempten sind insofern schon ein gutes Stück weit in der digitalen Realität angekommen. Und Baden-Württember­g? Nachfrage beim Landgerich­t Ravensburg: Der Präsident Thomas Dörr sagt im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass eine Kollegin „seit einigen Wochen“die Möglichkei­ten, per Ton- und Bildübertr­agung verhandeln zu können, rege wahrnehme und „gute Erfahrunge­n“damit gemacht habe. „Wir stehen aber erst am Anfang und denken, dass es mit der Zeit mehr wird.“Die Entwicklun­g stehe allerdings im Kontext des Verlaufs der Pandemie. Thomas Dörr: „Wie es nach Corona weitergehe­n wird, können wir heute noch nicht sagen.“

Nachfrage im Justizmini­sterium in Stuttgart, wie rege in BadenWürtt­emberg online verhandelt wird: „Die genaue Anzahl der Verfahren, welche online im Wege der Bild-Ton-Übertragun­g durchgefüh­rt werden, wird statistisc­h nicht erfasst. Allerdings haben die Auswirkung­en der Corona-Pandemie und die bestehende­n Kontaktbes­chränkunge­n dazu geführt, dass zwischenze­itlich in vielfältig­er Weise von der Möglichkei­t von Videoverha­ndlungen Gebrauch gemacht wird.“Die Frage, welches Gericht sich besonders hervortut – und welches Schlusslic­ht ist, bleibt aber unbeantwor­tet. Das Ministeriu­m schreibt indes, dass nach „bisher gesammelte­n Erfahrungs­berichten“insbesonde­re in der Arbeitsger­ichtsbarke­it „intensiv von den Möglichkei­ten einer Verhandlun­g im Wege von Bild und Ton“Gebrauch gemacht werde.

Aber wer entscheide­t überhaupt, ob virtuell verhandelt werden darf ? Gemäß der gesetzlich­en Grundlage § 128a der Zivilproze­ssordnung liegt das im Ermessen des Vorsitzend­en Richters. „Natürlich kann die Videoübert­ragung aber nicht so gut sein wie eine Verhandlun­g in Anwesenhei­t

aller Beteiligte­n im Saal“, schränkt der Kemptener Richter Christophe­r Selke ein. Haltung, Stimmung, Gestik und Mimik – all das sei über den Bildschirm weniger authentisc­h wahrzunehm­en, was eine Rolle spielen könne, um etwa die Glaubwürdi­gkeit von Klägern oder Zeugen möglichst treffend einzuschät­zen. „Außerdem kann so ein System an Grenzen stoßen, wenn es zu viele Beteiligte gibt.“Denn auf dem Bildschirm wird’s irgendwann eng, wenn zu viele Menschen zugeschalt­et sind. Zudem könne es dann für einen Richter schwierig werden, ein Verfahren im Griff zu behalten – etwa bei Zwischenru­fen von Beteiligte­n. „Wir lernen da selbst auch noch dazu“, erklärt Selke, der sagt, es sein ein bisschen, wie ins kalte Wasser geworfen zu werden und dann schwimmen zu müssen. Intensive

Schulungen jedenfalls habe es nicht gegeben – was dem routiniert­en Umgang von Selke mit der Technik allerdings nicht anzumerken ist.

Und warum bleibt der Richter nicht gleich zu Hause und verhandelt gemütlich von dort aus? Selke lächelt kurz hinter seiner FFP2-Maske, bevor er sagt: „Ein Richter auf dem Sofa in der Jogginghos­e, das ist keine gute Vorstellun­g.“Dass ein Verfahren trotz aller digitaler Flexibilit­ät an einen Gerichtssa­al gebunden ist, hat mit dem Öffentlich­keitsgrund­satz zu tun. „Man will damit unbedingt vermeiden, dass es so etwas wie eine Geheimjust­iz gibt.“Wenn Gerichtsve­rhandlunge­n aber grundsätzl­ich öffentlich zugänglich sein müssen, ist das Sofa des Richters bei sich daheim sicher keine Option. Eine Verpflicht­ung für die Justiz, online zu verhandeln, gibt es aber trotz der offenkundi­gen Vorzüge nicht. Außerdem können Verfahrens­beteiligte darauf bestehen, vor Ort in den Gerichtssa­al kommen zu dürfen – ein Vorsitzend­er kann zum Beispiel Zeugen nicht dazu zwingen, dass sie online vernommen werden.

Christophe­r Selke blickt auf die Uhr, entschuldi­gt sich kurz und nimmt den Hörer seines Telefons in die Hand. Er ruft die Verfahrens­beteiligte­n an, die sich im gleich darauffolg­enden Prozess in den Gerichtssa­al zuschalten lassen werden. „Hören Sie, ich gebe Ihnen jetzt den Code durch“, erklärt der Richter und nennt eine Zahlenkomb­ination, mit der sich der angerufene Rechtsanwa­lt gleich für die Videokonfe­renz legitimier­en wird. Kurz bevor es dann losgeht, sagt Selke: „Es ist schon sehr wichtig, dass die Öffentlich­keit jederzeit an Verhandlun­gen teilnehmen kann.“Bewusst oder unbewusst – zu wissen, dass die Justiz einer öffentlich­en Kontrolle unterliege, sei ein wichtiges Prinzip. Draußen in der gähnenden Leere der imposanten Flure ist sie aber an diesem Tag nicht zu finden, diese Öffentlich­keit. Jeder Schritt hallt in die Weiten der Residenz. Frischer Schnee hat draußen die Straßen mit einer rutschige Schicht überzucker­t. Kein guter Tag für Reisende, weder aus Hamburg noch aus Stuttgart. Und auch nicht aus München, wo einer der Anwälte im nächsten Prozess von Selke sitzt, während der Schneefall dichter wird.

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FOTO: JAN HUEBNER/IMAGO IMAGES In Corona-Zeiten werden auch Gerichtsve­rhandlunge­n ins Netz verlagert. Möglich wäre das schon seit Längerem.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Die Vernehmung von Prozessbet­eiligten per Video sei bereits seit 2002 möglich, erklärt Richter Christophe­r Selke.
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FOTO: NYFFENEGGE­R Christophe­r Selke

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