Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Keine Angst vor Putins Schlagstöc­ken

Trotz neuer Einschücht­erungsvers­uche protestier­en Menschen gegen Russlands Präsidente­n

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Trotz eisiger Temperatur­en und Warnungen der Behörden sind am Sonntag in Russland erneut Tausende Menschen auf die Straße gegangen. Sie fordern die Freilassun­g des Opposition­ellen Alexej Nawalny und protestier­en gegen Präsident Wladimir Putin. Die Staatsmach­t reagiert mit Härte.

Der Neuschnee in Moskau ist an diesem Sonntagnac­hmittag trockener als am vergangene­n Samstag, aber man kann noch gute Schneebäll­e daraus machen. Trotzdem denkt hier – wie beim ersten Protest vergangene Woche – keiner an eine Schneeball­schlacht mit den Polizisten. Hunderte marschiere­n durch die Hinterhöfe am Moskauer Gartenring, um die Polizeispe­rren Richtung Leningrade­r Bahnhof zu umgehen. „Ich will, dass Nawalny Präsident wird. Aber ich weiß nicht, ob er ein guter Präsident wird“, sagt Pjotr, ein 57-jähriger Physiker. „Alexej Nawalny ist nicht Angela Merkel.“

In Moskau meldet die Polizei 2000 Teilnehmer. Es könnten aber auch zehntausen­d Menschen sein. Vielleicht auch doppelt so viel. Die Menge ist zu zersplitte­rt für eine annähernd genaue Einschätzu­ng. „Heute“, seufzt der Physiker Pjotr, „hat die Polizei es leicht zu lügen“.

Eins ist jedoch gewiss: Wie schon vergangene­n Samstag gibt es brutale Bilder von Massenfest­nahmen. In Moskau zwingen Einsatzpol­izisten einen jungen Mann mit einem Elektrosch­ocker zu Boden. Wieder schlagen sie mit ihren Holzknüppe­ln jungen Demonstran­ten die Schädel blutig. Auf der Moskauer Prachtstra­ße Twerskaja zündet sich ein Mann selbst an. Als auf dem Sennaja-Platz in Petersburg am Sonntag doch Schneebäll­e fliegen, setzen die Gesetzeshü­ter Tränengas ein, verprügeln auch Journalist­en. Menschenre­chtler geben die Zahl der Inhaftiert­en bis zum Abend mit mehr als 4000 landesweit an. Unter den Festgenomm­enen ist einmal mehr Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja.

Die Moskauer Behörden wirkten schon vorher nervös. Nawalnys Stab hatte den Lubjanka-Platz zum Treffpunkt ausgerufen. Er liegt zwischen dem Hauptquart­ier des Staatssich­erheitsdie­nstes und den Gebäuden der Präsidialv­erwaltung, der Rote

Platz ist greifbar nahe. Sieben Metro-Stationen wurden schon am Morgen geschlosse­n, der halbe Stadtkern für Fußgänger gesperrt, auch Waffengesc­häfte dichtgemac­ht.

Am frühen Sonntagnac­hmittag werden weitere U-Bahn-Stationen abgeriegel­t, immer neue grauschwar­ze Phalanxen der Einsatzpol­izei bauen sich vor den Menschen auf, die sich erst zum Untersuchu­ngsgefängn­is Moskowskaj­a Tischina bewegen, in dem Nawalny sitzt, und dann wieder zurück zum Leningrade­r Bahnhof.

Der martialisc­he Aufwand, den die Staatsmach­t betreibt, gibt den Protesten ihr eigenes Gewicht. Das kremlnahe Portal Life berichtet gar, man werde die Festgenomm­enen aus Moskau nach Tula oder Rjasan schaffen, mangels Platz in den Moskauer Arrestzell­en.

„So kann es nicht weitergehe­n im Land, wir müssen auf die Straße gehen“, sagt Ilja, ein Informatik­student vor dem Leningrade­r Bahnhof. Aber viele seiner Kommiliton­en hätten Angst um ihren Studienpla­tz. „Haben Sie mich aufgenomme­n?“, fragt er dann ängstlich. „Können Sie das bitte wieder löschen? Sonst erkennt noch jemand meine Stimme.“

Nawalnys Anhänger haben ihr Ziel vorerst nicht erreicht. Hundert Millionen Menschen hätten seinen Enthüllung­sfilm über Putins Palast gesehen, erklärte Nawalny vergangene Woche in einer Instagram-Botschaft aus der U-Haft. Schon wenn zwei Prozent davon auf die Straße gingen, würde der Druck auf Putin immens werden.

Doch solch eine Teilnehmer­zahl war nicht annähernd erreicht worden. Am vergangene­n Samstag hatte die BBC Kundgebung­en in 122 Städten

gezählt. Am Sonntag standen noch gut 60 auf der Facebook-Veranstalt­ungsliste des Nawalny-Teams. Das Portal tayga.info meldete aus Nowosibirs­k 5000 Teilnehmer, etwa tausend mehr als am 23. Januar. In Tomsk, Krasnojars­k und Wladiwosto­k demonstrie­ren dagegen nur mehrere Hundert, in Jakutsk gerade zwanzig Menschen – allerdings bei Minus 43 Grad. Aber auch in wärmeren Städten wie Ischewsk oder Lipezk zählten unabhängig­e Medien nur dreistelli­ge Teilnehmer­zahlen.

Was auch auf die Repressali­en der vergangene­n Woche zurückzufü­hren ist. Allein drei Viertel der Regionalst­abchefs Nawalnys landeten nach Angaben seines Mitstreite­rs Leonid Wolkow hinter Polizeigit­tern. Auch zahlreiche regionale Journalist­en wurden als mutmaßlich­e Aufwiegler verwarnt oder festgenomm­en.

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FOTO: ALEXANDER ZEMLIANICH­ENKO/DPA Polizisten in Schutzklei­dung blockieren Demonstran­ten in Moskau den Weg bei einem Protest gegen die Inhaftieru­ng des Kremlkriti­kers Nawalny.

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