Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Empörung über Brüssel vereint Dublin und London
EU und Regierungschefs wenden Eskalation des Streits um Impfstoff-Lieferungen ab – Sorge um Frieden in Nordirland
LONDON - Die Drohung der EUKommission, im Streit um Lieferengpässe beim britisch-schwedischen Impfstoff-Hersteller Astra-Zeneca notfalls die innerirische Grenze zu schließen, hat in Irland und Großbritannien Empörung ausgelöst. Die Premiers Michéal Martin und Boris Johnson hatten die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Nacht zum Samstag gemeinsam zum Einlenken bewegt. Dieser „leichtfertige Fehler hätte nicht passieren dürfen“, teilte der irische Außenminister Simon Coveney mit. Führende Brexiteers fordern eine Neufassung der umstrittenen Sonderregelung für Nordirland.
Die Erhaltung des Friedensprozesses in Nordirland machten die EU-Verhandler nach der Brexit-Entscheidung 2016 auf Drängen Dublins zu einem ihrer zentralen Anliegen. Gegen den Widerstand der Hardliner in den eigenen Reihen und der nordirischen Protestantenpartei DUP stimmte Johnson dem Nordirland-Protokoll
im EU-Austrittsvertrag zu. Es garantiert den weitgehend ungestörten Verbleib Nordirlands im europäischen Binnenmarkt, führt aber zu Kontrollen zwischen der einstigen Unruheprovinz und der britischen Hauptinsel. Für die Aussöhnung zwischen Katholiken und Protestanten und die wirtschaftliche Entwicklung der Insel gilt die offene Grenze ohne Zollund Paßkontrollen als unabdingbar.
Entsprechend entsetzt reagierten Dublin und London, als sie am späten Freitagnachmittag von den Brüsseler Plänen erfuhren. Bei den neuen Ausfuhrkontrollen für Corona-Impfstoffe, die innerhalb der EU produziert werden, müsse man notfalls auch Artikel 16 des Nordirland-Protokolls einseitig in Anspruch nehmen, hieß es im Kleingedruckten. Dies hätte eine Schließung der inneririschen
Grenze erfordert. Johnson und Martin verständigten sich darauf, von der Leyen unter Druck zu setzen. Unterdessen telefonierte Kabinettsminister Michael Gove mit von der Leyens Vize Maros Sefcovic; die Politiker hatten in den Verhandlungen über praktische Probleme Nordirlands ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Dem anglo-irischen Druck gab Brüssel rasch nach.
Zuvor hatte das offenbar mangelhaft koordinierte Vorgehen der EU die politischen Akteure Nordirlands in beispielloser Harmonie vereint. Der britische Teil der grünen Insel gehörte beim Referendum wie Schottland und London zu jenen Teilen des Vereinigten Königreiches, die sich klar für den EU-Verbleib aussprachen. Zu den EU-Befürwortern gehörten auch alle größeren politischen Parteien bis auf die DUP.
Die größte Katholikenpartei Sinn Féin nannte die Initiative „unklug“, Colum Eastwood von der SDLP sprach von einem „ernsten Fehler“. Auf Protestantenseite wurden Stimmen laut, London solle von sich aus Artikel 16 außer Kraft setzen – die einzig richtige Antwort auf „diesen Akt der Feindseligkeit“, sagte DUPChefin und Ministerpräsidentin Arlene Foster. Ähnlich äußerten sich Brexit-Hardliner in Johnsons konservativer Regierungspartei wie die frühere Ministerin Theresa Villiers.
In Großbritannien reicht die Bestürzung über die geplanten Exportkontrollen bis ins Lager der Pro-Europäer. Die Sonntagszeitung „Observer“konstatierte, die Impfkrise zeige die „schlimmste Seite Europas“und die „beste Seite Großbritanniens“. Labour-Lord Stewart Wood, einst Europa-Berater von Premier Gordon Brown, zeigte sich auf Twitter zornig, warnte aber vor Vergeltungsmaßnahmen. Der Europa-Experte Anand Menon sprach davon, die EU habe „die Sache total vermasselt“.