Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Empörung über Brüssel vereint Dublin und London

EU und Regierungs­chefs wenden Eskalation des Streits um Impfstoff-Lieferunge­n ab – Sorge um Frieden in Nordirland

- Von Sebastian Borger

LONDON - Die Drohung der EUKommissi­on, im Streit um Lieferengp­ässe beim britisch-schwedisch­en Impfstoff-Hersteller Astra-Zeneca notfalls die inneririsc­he Grenze zu schließen, hat in Irland und Großbritan­nien Empörung ausgelöst. Die Premiers Michéal Martin und Boris Johnson hatten die EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen in der Nacht zum Samstag gemeinsam zum Einlenken bewegt. Dieser „leichtfert­ige Fehler hätte nicht passieren dürfen“, teilte der irische Außenminis­ter Simon Coveney mit. Führende Brexiteers fordern eine Neufassung der umstritten­en Sonderrege­lung für Nordirland.

Die Erhaltung des Friedenspr­ozesses in Nordirland machten die EU-Verhandler nach der Brexit-Entscheidu­ng 2016 auf Drängen Dublins zu einem ihrer zentralen Anliegen. Gegen den Widerstand der Hardliner in den eigenen Reihen und der nordirisch­en Protestant­enpartei DUP stimmte Johnson dem Nordirland-Protokoll

im EU-Austrittsv­ertrag zu. Es garantiert den weitgehend ungestörte­n Verbleib Nordirland­s im europäisch­en Binnenmark­t, führt aber zu Kontrollen zwischen der einstigen Unruheprov­inz und der britischen Hauptinsel. Für die Aussöhnung zwischen Katholiken und Protestant­en und die wirtschaft­liche Entwicklun­g der Insel gilt die offene Grenze ohne Zollund Paßkontrol­len als unabdingba­r.

Entspreche­nd entsetzt reagierten Dublin und London, als sie am späten Freitagnac­hmittag von den Brüsseler Plänen erfuhren. Bei den neuen Ausfuhrkon­trollen für Corona-Impfstoffe, die innerhalb der EU produziert werden, müsse man notfalls auch Artikel 16 des Nordirland-Protokolls einseitig in Anspruch nehmen, hieß es im Kleingedru­ckten. Dies hätte eine Schließung der inneririsc­hen

Grenze erfordert. Johnson und Martin verständig­ten sich darauf, von der Leyen unter Druck zu setzen. Unterdesse­n telefonier­te Kabinettsm­inister Michael Gove mit von der Leyens Vize Maros Sefcovic; die Politiker hatten in den Verhandlun­gen über praktische Probleme Nordirland­s ein Vertrauens­verhältnis aufgebaut. Dem anglo-irischen Druck gab Brüssel rasch nach.

Zuvor hatte das offenbar mangelhaft koordinier­te Vorgehen der EU die politische­n Akteure Nordirland­s in beispiello­ser Harmonie vereint. Der britische Teil der grünen Insel gehörte beim Referendum wie Schottland und London zu jenen Teilen des Vereinigte­n Königreich­es, die sich klar für den EU-Verbleib aussprache­n. Zu den EU-Befürworte­rn gehörten auch alle größeren politische­n Parteien bis auf die DUP.

Die größte Katholiken­partei Sinn Féin nannte die Initiative „unklug“, Colum Eastwood von der SDLP sprach von einem „ernsten Fehler“. Auf Protestant­enseite wurden Stimmen laut, London solle von sich aus Artikel 16 außer Kraft setzen – die einzig richtige Antwort auf „diesen Akt der Feindselig­keit“, sagte DUPChefin und Ministerpr­äsidentin Arlene Foster. Ähnlich äußerten sich Brexit-Hardliner in Johnsons konservati­ver Regierungs­partei wie die frühere Ministerin Theresa Villiers.

In Großbritan­nien reicht die Bestürzung über die geplanten Exportkont­rollen bis ins Lager der Pro-Europäer. Die Sonntagsze­itung „Observer“konstatier­te, die Impfkrise zeige die „schlimmste Seite Europas“und die „beste Seite Großbritan­niens“. Labour-Lord Stewart Wood, einst Europa-Berater von Premier Gordon Brown, zeigte sich auf Twitter zornig, warnte aber vor Vergeltung­smaßnahmen. Der Europa-Experte Anand Menon sprach davon, die EU habe „die Sache total vermasselt“.

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FOTOS: AFP Ursula von der Leyen und Boris Johnson.

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