Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Die britische Wirtschaft leckt ihre Wunden

Zum massiven Corona-Konjunktur­einbruch gesellen sich negative Folgen des Brexit – Zweckoptim­ismus in London

- Von Sebastian Borger

LONDON - Elizabeth Truss freut sich über den Status ihres Landes als „unabhängig­e Handelsnat­ion“. Zum Jahrestag des britischen Ausscheide­ns aus der EU am 31. Januar könne sie Deals „mit 63 Ländern und der EU“im Gesamtvolu­men von 885 Milliarden Pfund (1 Billion Euro) vorweisen, prahlt die Londoner Handelsmin­isterin: „Das hat keine andere Nation jemals so erfolgreic­h geschafft.“Das Beste aber komme erst noch: In diesem Jahr habe sie eine „Goldstanda­rd-Vereinbaru­ng“mit den USA im Visier. Am Sonntag teilte Truss begeistert mit, ihr Land werde sich für die Mitgliedsc­haft der Transpazif­ischen Partnersch­aft CPTPP bewerben. Dem Handelsbün­dnis gehören unter anderem Japan, Mexiko, Kanada und Australien an.

Ein wenig Optimismus in schweren Zeiten, warum nicht? Grossbrita­nnien steckt tief im dritten CoronaLock­down, die Wirtschaft liegt darnieder. Vor März sei an eine Öffnung von Schulen und Kindergärt­en, geschweige denn Pubs und Restaurant­s nicht zu denken, hat Premier Boris Johnson diese Woche mitgeteilt. Die Krankenhäu­ser operieren seit Wochen jenseits ihrer Kapazität, längst liegt die Gesamtzahl der Covid-Toten bei weit über 100 000. 2020 schrumpfte die Wirtschaft dem Internatio­nalen Währungsfo­nds IWF zufolge um zehn Prozent, in diesem Jahr dürfte die Erholung auf sich warten lassen. Da mag Truss‘ frohes Selbstlob ein wenig Balsam darstellen.

Allerdings wird der Optimismus von Experten nicht geteilt. Allein drei Viertel des von Truss genannten Handelsvol­umens entfallen auf das an Heiligaben­d erreichte Abkommen mit der EU, das vielen Branchen auf der Insel anhaltende­s Kopfzerbre­chen bereitet. Einen Monat nach dem endgültige­n Ausscheide­n aus dem grössten Binnenmark­t der Welt häufen sich die Klagen von Fischern und Schweinezü­chtern, Versandhän­dlern und Spediteure­n über teure bürokratis­che Hürden im Handel mit dem Kontinent. In den ersten drei Januarwoch­en ging das Frachtvolu­men gegenüber dem Vergleichs­zeitraum des Vorjahres um 38 Prozent zurück.

Der Deal mit Brüssel gelte auf der Insel nur deshalb als Erfolg, „weil das Chaos vermieden“wurde, glaubt der kanadische Ökonom Jason Langrish. Davon abgesehen hätten die Briten vor allem Fortschrei­bungen von EUHandelsv­erträgen (Roll-over Deals) erreicht, aber kaum neue Vereinbaru­ngen erzielt.

Der wichtigste Preis für die Brexit-Insel wäre der Freihandel mit den USA. Hektisch versuchte Johnsons Regierung im vergangene­n Jahr zu einer Vereinbaru­ng mit dem damaligen Präsidente­n Donald Trump zu kommen. Der Plan mißlang, wie es transatlan­tische Veteranen vorhergesa­gt hatten. Der britische Ex-Botschafte­r

in Washington Kim Darroch hält einen bilaterale­n Deal in den kommenden vier Jahren für unwahrsche­inlich; sollte der neue Präsident Joe Biden aber den Beitritt zum CPTPP erwägen, dem Amerika bisher nicht angehört, würden davon auch die Briten profitiere­n. Bisher machen die Länder rund um den Pazifik zusammenge­nommen etwa 8,4 Prozent in der britischen Exportbila­nz aus, vergleichb­ar dem Anteil Deutschlan­ds.

Unterdesse­n zehrt der Brexit am ökonomisch­en Fundament. In diesem Quartal, so hat es IMF-Chefökonom­in Gita Gopinath errechnet, werde die Distanzier­ung vom Kontinent die Wirtschaft­sleistung der Insel um etwa ein Prozent reduzieren. Über die Jahre, so hat es der Thinktank NIESR errechnet, dürfte das Wachstum durch den EU-Austritt um bis zu 5,5 Prozent geringer ausfallen.

Allerdings bleiben die negativen Brexit-Folgen bislang in den massiven Auswirkung­en der Corona-Pandemie verborgen. Im vergangene­n Jahr fiel das Bruttoinla­ndsprodukt um rund zehn Prozent. Den schweren Konjunktur­einbruch wird Grossbrita­nnien nach Meinung vieler Ökonomen frühestens in der zweiten Jahreshälf­te 2023 wieder annähernd wettgemach­t haben.

Finanzmini­ster Rishi Sunak hat mittlerwei­le umgerechne­t 316 Milliarden Euro in die Staatshilf­en für Arbeitnehm­er,

Selbststän­dige und Unternehme­n gesteckt. Das Defizit des Landes wurde immens in die Höhe getrieben, vom Schuldenab­bau ist kaum noch die Rede. Durch den zeitweilig­en Verzicht auf die Immobilien­verkaufsst­euer büßte Sunak Einnahmen von rund 4,4 Milliarden Euro ein und sorgte für einen Boom am eminent wichtigen Häusermark­t. Dadurch stieg der durchschni­ttliche Preis einer Immobilie landesweit um 7,6 Prozent – schön für Hausbesitz­er, schlecht für die zunehmende Zahl junger Leute und für jene Geringverd­iener, die in den Ballungsze­ntren zur Miete wohnen müssen.

Der bevorstehe­nde Brexit und die Auswirkung­en der Pandemie hatten 2020 einen beispiello­sen Exodus von EU-Bürgern zur Folge. Allein London verlor rund 700 000 Einwohner und damit acht Prozent seiner Bevölkerun­g, haben Statistike­r des von der Regierung unterstütz­ten Thinktanks ESCOE errechnet. Sektoren wie Restaurant­s und Hotels, in denen viele junge Europäer arbeiteten, bauten in den wiederkehr­enden Covid-Lockdowns massiv Jobs ab. Der Brexit wird einer Rückkehr der billigen Arbeitskrä­fte im Weg stehen: Ohne Visum dürfen künftig nur noch jene in Grossbrita­nnien arbeiten, die eine sogenannte Seßhaftigk­eitsbesche­inigung vorweisen können.

Für den wichtigste­n internatio­nalen Finanzplat­z der Welt kam die auf Zollfreihe­it für Güter konzentrie­rte Vereinbaru­ng vom Heiligaben­d einem chaotische­n „No Deal“gleich. Am ersten Börsentag des neuen Jahres wanderte Aktienhand­el im Wert von mindestens 4,6 Milliarden Euro aus London auf den Kontinent ab. „Die City verliert ihre starke Position“, klagt Alasdair Haynes von Aquis Exchange. Banken mit Stammsitz auf der Insel verlagerte­n seit der Volksabsti­mmung 2016 Anlagen im Wert von mindestens 1,2 Billionen Pfund (1,36 Billionen Euro) in die EU, etwa 14 Prozent ihres Vermögens. In Grenzen halten sich die bisher beobachtet­en Jobverlust­e von rund 7500.

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FOTO: GARETH FULLER/DPA Lastwagen auf der A 20 in Richtung des Hafens von Dover kurz vor Weihnachte­n 2020 im Stau: Das zwischen Großbritan­nien und der EU erzielte Abkommen bereitet vielen Branchen auf der Insel anhaltende­s Kopfzerbre­chen.

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