Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Stiko-Chef gegen Sonderrechte für Geimpfte
Thomas Mertens, Leiter des mobilen Impfteams in Ulm, berichtet aus der Praxis
ULM - Bis 2018 war Thomas Mertens Ärztlicher Direktor der Virologie am Ulmer Universitätsklinikum; heute ist der 70-Jährige Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut. Der Ulmer Landtagsabgeordnete Martin Rivoir (SPD) lud Mertens sowie Guido Adler, Medizinprofessor und Koordinator der mobilen Impfteams in Ulm, zu einer digitalen Corona-Sprechstunde am Sonntagvormittag ein. Mertens gab pragmatisch und differenziert Antworten auch auf seltener gestellte Fragen zur Corona-Pandemie und zur Impfung und erklärte, weshalb derzeit noch so viele Unklarheiten zum Beispiel über die Dauer der Wirkung einer Impfung bestehen.
Oft werden „Sonderrechte“für Geimpfte oder auch für Menschen gefordert, die die Infektion überstanden haben. Der Stiko-Vorsitzende erteilt solchen Forderungen eine klare Absage: „Man muss den Geimpften sagen, dass sie nicht schlagartig mit den Schutzmaßnahmen aufhören dürfen“, so Mertens. Auch Geimpfte müssen weiterhin Mund-Nasen-Schutz tragen und sich an die Abstandsregeln halten, „bis alle geimpft sind“. Dass ein Impfstoff eine „sterile Immunität“erzeuge, ist eine relativ neue Forderung, sagte Mertens. Auch der Impfstoff gegen Röteln beispielsweise verhindert nicht die Weitergabe des die Krankheit auslösenden Virus, sondern nur die Erkrankung selbst.
Guido Adler berichtete davon, dass es bei den über 80-jährigen Geimpften praktisch kaum Nebenwirkungen gebe, während unter Jüngeren nach der Impfung öfter Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit für einige Stunden beobachtet werden. Die jetzt gemachten Beobachtungen entsprächen genau den Ergebnissen der Studien, bestätigte Mertens. Die Häufigkeit von Nebenwirkungen nehme mit dem Alter ab. Zur häufigen Forderung nach einer Impfung von Kindern könne man nur sagen, dass bislang keine Studien dazu existieren und sie deshalb derzeit kein Thema ist.
Die Impfbereitschaft in der Bevölkerung sei hoch, schilderte Thomas Mertens. Noch vor drei Monaten habe eine große Skepsis gegenüber den von
Biontech/Pfizer und Moderna entwickelten mRNA-Impfstoffen bestanden, heute habe sich die Einstellung in weiten Kreisen der Bevölkerung aber umgekehrt. Viele wollen lieber mit den neuartigen Impfstoffen geimpft werden als mit von anderen Firmen entwickelten Vektor-Impfstoffen.
Mertens drückte die Hoffnung aus, dass in den nächsten Monaten deutlich mehr Impfstoff zur Verfügung stehen werde. Es sei unterschätzt worden, wie lange es dauert, die weltweit nötigen großen Massen an Impfstoff zu produzieren. Der Impfstoff von Johnson & Johnson sei der nächste, der verfügbar sein werde, und bis zum Sommer soll es sechs oder sieben zugelassene Impfstoffe geben. Man müsse aber sehen: „Nicht alle Impfstoffe, die zugelassen werden, sind gleich in ihrer Charakteristik.“Wie lange aber wird die schützende Wirkung der Impfstoffe anhalten? Dazu gibt es angesichts der kurzen Zeit, seit der erste Impfstoff auf den Markt kam, noch keine Erfahrungen, sagte Mertens. Er geht jedoch davon aus, dass nachgeimpft werden müsse. Bei Menschen, die eine Corona-Infektion hinter sich haben, empfehle die Stiko eine Impfung sechs Monate nach der überstandenen Infektion.
Schwierige ethische Fragen tun sich auf, wenn es darum geht, ob Menschen in den Hospizen geimpft werden sollen – derweil ist für Mertens bereits eindeutig geklärt, dass Menschen in der Priorisierung vorgezogen werden müssen, denen eine Chemotherapie
Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko)
bevorsteht. Menschen zu impfen, die sich bereits im Sterbeprozess befinden, ergebe keinen Sinn, weil die Nebenwirkungen der Impfung ihr geschwächtes Immunsystem belasten, während der Effekt der Impfung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr eintritt. Habe jemand dagegen eine wenn auch begrenzte Lebenszeit, in der die Impfung sinnvoll ist, dürfe man diesen Patienten nicht an einer schlimmen Pneumonie ersticken lassen, und eine Impfung sei angeraten.
Martin Rivoir erzählte von einer Beobachtung der jüngsten Vergangenheit, die aufzeige, weshalb die Infektionszahlen nicht weiter sinken: In einer Autowerkstatt habe er drei Mechaniker gesehen, die eng beieinanderstehend rauchten. Im Arbeitsleben werde das Thema Abstand oft ignoriert, bestätigte Mertens. Es sei „nicht so ganz trivial“, die Menschen dafür zu erreichen. Er appellierte für Aufklärung auf allen Kanälen, um Menschen am Arbeitsplatz zum Einhalten der AHA-Regeln zu bringen.
„Man muss den Geimpften sagen, dass sie nicht schlagartig aufhören dürfen mit den Schutzmaßnahmen.“