Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wie der Geheimdien­st einmal Gutes tat

„Eine Seuche in der Stadt“ist Ljudmila Ulitzkajas Kommentar zur Corona-Lage

- Von Friedemann Kohler

Moskau im Winter 1939. Nachts rasen schwarze Autos durch die sowjetisch­e Hauptstadt, halten vor Wohnhäuser­n. Drinnen lauschen Menschen angstvoll: Kommen die Schritte an meine Tür? Seit zwei Jahren tobt der politische Terror, entfesselt von Diktator Josef Stalin. Dann klingelt es, Vermummte in Schutzanzü­gen schleppen verstörte Menschen fort. Doch es geht nicht ins Gefängnis, sondern – und darüber herrscht große Erleichter­ung – nur in Quarantäne.

In ihrem beklemmend­en Kurzroman „Eine Seuche in der Stadt“greift die russische Schriftste­llerin Ljudmila Ulitzkaja ein reales Geschehen auf: 1939 wurde in Moskau ein Ausbruch der Lungenpest gestoppt. Deren Erreger ist noch tödlicher als das Coronaviru­s, aber er wird genauso durch Tröpfchen in der Luft übertragen. Ulitzkaja (77) versteht ihr Buch durchaus als Kommentar zur aktuellen Pandemiela­ge.

Die renommiert­e Autorin (zuletzt „Die Kehrseite des Himmels“, „Jakobsleit­er“) ist studierte Biologin. Sie erzählt das Geschehen wissenscha­ftlich genau. Es gibt den Patienten Nr. 1, den Forscher in einem Geheimlabo­r, der sich versehentl­ich infiziert. Er wird zum Vortrag nach Moskau befohlen. Die Dienstreis­e bringt seine Geliebte, die Mitfahrer im Zug, die Zuhörer bei seinem Vortrag, den Barbier im Hotel in Gefahr.

Ulitzkaja erzählt lakonisch, in kurzen, bildstarke­n Szenen. Man merkt dem Buch an, dass es eigentlich als Entwurf eines Drehbuchs entstanden ist. Die Rettung kommt von unerwartet­er Seite: So wie der allmächtig­e Geheimdien­st NKWD sonst vermeintli­che Feinde verfolgt, spürt er nun die Kontaktper­sonen auf und steckt sie in Quarantäne.

In einer makabren Szene bietet der „Mächtige Mann“, der Staatschef, an, dass die Sicherheit­sorgane diese Menschen auch gleich töten könnten. Erschrocke­n stellt der Volkskommi­ssar für Gesundheit klar, dass es nicht um Liquidieru­ng, sondern nur um Isolierung gehe. Doch ein Oberst erschießt sich aus Angst, als es an seiner Tür klopft …

„Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichts­losen Organisati­on, dass sie dem Wohl des Volkes diente, nicht seiner Einschücht­erung und Vernichtun­g“, schreibt Ulitzkaja im Nachwort. Die Autorin ist seit Langem eine Kritikerin der vergangene­n wie der gegenwärti­gen Repression in Russland. Sie deutet staatliche­n Terror, Gewalt, Diktatur ebenfalls als eine Art Pest, die eine Gesellscha­ft infiziert.

Es ist eine aktuelle Frage angesichts von Corona, auch wenn Ulitzkaja keine eindeutige Antwort gibt:

Welche Gesellscha­ften schützen ihre Menschen besser gegen die Seuche, die strengen oder die freiheitli­chen? Im Buch deutet ein Notarzt als erster die Symptome des Pestkranke­n richtig. Er riegelt sich mit dem Todgeweiht­en ab, unterbrich­t die Infektions­kette, auch wenn das sein eigenes Schicksal besiegelt.

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Baumgardt, Hanser, München, 113 Seiten, 16 Euro.

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FOTO: CLAUDIA THALER/ DPA Die russische Schriftste­llerin Ljudmila Ulizkaja ist eine scharfe Kritikerin der Repression in Russland.
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