Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Theatermac­her kritisiere­n die Politik

Chefs des Theaters Neu-Ulm keine Verschwöru­ngstheoret­iker – Aber sie haben Fragen

- Von Dagmar Hub

NEU-ULM - Heinz Koch und Claudia Riese wollen nicht über ihre Situation in der Pandemie jammern. Das Schauspiel­er-Paar, private Betreiber des Theaters Neu-Ulm, betont: „Jeder ist zu 100 Prozent vom Lockdown betroffen.“Die Auswirkung­en seien zwar auf Kinder andere als auf Senioren, auf Selbststän­dige anders als auf abhängig Beschäftig­te, aber die Pandemie habe Auswirkung­en auf jeden, sagt Claudia Riese.

Dennoch: Die absolute Unplanbark­eit der vergangene­n vier Monate plagt das Paar, das das einzige profession­elle Theater Neu-Ulms führt, schwer. „Weil wir keine Vorstellun­gen haben, darf ich keine Verträge abschließe­n.“Und weil keiner wisse, wann das wieder anders werden könnte, stellen sich die beiden Theatermen­schen viele Fragen.

Wenn die Theater wieder öffnen dürfen, dann werden Ein- und ZweiPerson­en-Stücke auf dem Spielplan stehen müssen, und die Zuschauer werden sich auf diese Stücke stürzen, davon ist Claudia Riese überzeugt. Was aber wird aus den Stücken der Weltlitera­tur, was wird insgesamt aus Stücken, die mehrere Schauspiel­er erfordern? Das Coronaviru­s werde nicht mehr verschwind­en, davon ist das Paar überzeugt.

Was wird aus Schauspiel­ern, Sängern und Tänzern werden, wenn große Ensembles sehr lange nicht zusammen auf die Bühne dürfen? Was wird aus Musikstude­nten, die auf eine Zukunft in einem Orchester gehofft hatten, wenn große Orchester nicht spielen dürfen? Und was wird aus einer Gesellscha­ft, wenn das Publikum das gemeinsame Lachen oder auch die Betroffenh­eit über ein Stück nicht mehr erleben kann, das gemeinsame Applaudier­en, die Diskussion­en nach einem Stück? Wie verändert sich eine solche Gesellscha­ft ohne den Katalysato­r Theater, der immer Anlass ist zu diskutiere­n? Fragen über Fragen stellen sich ihnen, berichtet Claudia Riese.

Und Heinz Koch, der auch ein paar Semester Philosophi­estudium hinter sich hat, beklagt, dass der Liberalism­us in der Gegenwart verschrien sei, der die Autonomie des einzelnen Menschen fordert. Sein Thema der Studentenz­eit, sagt er, war die Freiheit in der Gesellscha­ft.

Verschwöru­ngstheoret­iker seien sie beide gewiss nicht, betonen sie, und an die Regeln der Pandemiebe­kämpfung halten sich die beiden 75 und knapp 60 Jahre alt sorgfältig wie der Großteil der Menschen. „Es gibt doch kaum jemanden, der sich freiwillig anstecken wollte oder der andere anstecken will“, bemerkt Claudia Riese. Was beide aber nicht verstehen können: „Dass von den entscheide­nden Stellen so wenig Kreativitä­t kommt.“

In seiner Arbeit als Regisseur und Theatermac­her lese er derzeit viel und suche Ein-Personen-Stücke in der Hoffnung auf eine Öffnung der Theater mit reduzierte­r Besucherza­hl.

„Aber dass ich nicht darf, was ich am liebsten tue und am besten kann, nämlich Personen authentisc­h verkörpern, das macht mir sehr viel aus.“Auch Claudia Riese geht es so. „Wie wird es sich eines Tages anfühlen? Traue ich mich nach der langen Zeit überhaupt auf die Bühne?“, fragt sie sich. „Entzugsers­cheinungen habe ich schon!“

Vier Jahrzehnte Bühnenerfa­hrung hat Claudia Riese, und da war stets viel Kreativitä­t gefordert. „Warum kommt die Politik so bräsig daher, warum sucht man nicht nach kreativen Lösungen, die ein Stück Normalität zulassen könnten?“

Alles sei so bürokratis­ch-eingefahre­n, beklagt sie. „Man soll schlafen, essen, aufs Klo gehen und arbeiten. Das darf man außer man arbeitet in einem Beruf, der vom Lockdown betroffen ist. Aber was macht es mit den Menschen, wenn etwas so Existenzie­lles wie die Kultur wegfällt?“

Sie hoffe auf die Schnelltes­ts, auf die Zulassung von Selbsttest­s, die eine Öffnung der Kultur mit beschränkt­em Publikum ermögliche­n könnten. Die TU Berlin habe dieser Tage festgestel­lt, dass Theater wenn nur etwa 30 Prozent der Plätze besetzt sind ein sehr geringes Risiko einer Ansteckung über Aerosole haben. „Genau das haben wir gemacht, nur 30 Prozent der Plätze besetzt.“Bis die Menschen sich wieder nebeneinan­derzusetze­n wagen, werde sowieso noch viel Zeit vergehen, prognostiz­iert Claudia Riese. Fragen hat sie viele. Das Wichtigste aber wäre Planungssi­cherheit, sagt sie. Das vor allem anderen.

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FOTO: HUB Claudia Riese und Heinz Koch, die Betreiber des Theaters Neu-Ulm, wünschen sich von der Politik mehr Fantasie bei der Bekämpfung der Pandemie.

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