Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Im Notfall muss es ein Exportverbot für Impfstoffe geben“
Der CSU-Politiker Manfred Weber erklärt den Weg der Europäischen Union in der Corona-Pandemie und im Umgang mit Russland
BERLIN - Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, hält den Aufbau staatlicher Produktionskapazitäten bei der Impfstoffherstellung für denkbar, um die Bevölkerung besser gegen die CoronaPandemie schützen zu können. Zugleich forderte der CSU-Politiker im Interview mit Claudia Kling ein Exportverbot für in der EU produzierte Impfstoffe, falls Staaten wie Großbritannien und die USA weiterhin nicht bereit seien, partnerschaftlich zu handeln. „Dann darf die EU nicht naiv sein“, sagte Weber.
Herr Weber, wenn sich bei Ihnen in Niederbayern ein 85-Jähriger darüber beklagt, dass er bis heute keinen Impftermin hat, was antworten Sie diesem Mann? Liegt dafür die Verantwortung in München, Berlin oder Brüssel?
Ich antworte, dass der Bedarf derzeit um ein Vielfaches höher ist als das, was die Produktion leisten kann. Und ich sage, dass wir alle miteinander Verantwortung tragen. Ich ergänze aber auch, dass die Grundentscheidungen, die die EU mit den Mitgliedstaaten gefällt hat, richtig waren. Dass gemeinsam die Verträge mit den Herstellern abgeschlossen wurden, und wir uns nicht in Europäer erster und zweiter Klasse dividieren haben lassen. Wenn wir das anders geregelt hätten, gäbe es jetzt eine Art Impfkrieg auf dem Kontinent. Es war auch richtig, der Europäischen Zulassungsbehörde EMA mehr Zeit einzuräumen, damit die Impfstoffe garantiert sicher sind. Dritter Punkt ist die Haftung der Großkonzerne, die von der EU erzwungen wurde. Die Pharmakonzerne machen in der Pandemie einen außergewöhnlichen Job, sind aber keine Heiligen, sondern es sind Unternehmen, die Geld verdienen wollen. Das wird oft vergessen.
Heißt das, die EU-Kommission ist in der Debatte um fehlende Impfstoffe zum Sündenbock gemacht worden?
In Europa ist nicht alles perfekt gelaufen, deshalb war es gut, dass EUKommissionschefin Ursula von der Leyen Fehler eingeräumt hat. Künftig wird es aber weniger um die Produktion der Impfstoffe gehen, sondern um die Frage, wie sie an die Frau oder den Mann gebracht werden. Die Mitgliedstaaten müssen jetzt entsprechende Kapazitäten aufbauen, damit es zu keinen weiteren Verzögerungen kommt. Das ist auch Thema beim EU-Gipfel am Donnerstag.
Die Herstellung von Impfstoffen gegen Corona wird langfristig ein Thema bleiben. Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Politik ?
Das Coronavirus und die dazugehörigen Impfthemen sind nicht nur Fragen des Gesundheitsschutzes. Wir müssen die Pandemie auch unter dem Aspekt Katastrophenschutz betrachten, weil es darum geht, die Bevölkerung künftig besser kollektiv zu schützen. Das kann bedeuten, dass wir ergänzend staatliche Produktionskapazitäten bei der Impfstoffherstellung aufbauen müssen und uns nicht allein auf privatwirtschaftliche Hersteller verlassen sollten. Der Staat investiert ja auch in die Feuerwehr oder das Technische Hilfswerk. Eine ähnliche Verantwortung hat er bei der Bekämpfung von Pandemien. Das ist eine Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte.
Die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament will zehn Milliarden Euro in die Impfstoff-Produktion investieren. Mit welchem Ziel?
Wir wollen mit einer Investitionsoffensive einen europäischen Lieferverbund für Impfstoffe aufbauen. Unser Ziel ist, dass sich Europa selbst mit Vakzinen versorgen kann. Das Geld soll auch in die Forschung fließen, um die Impfstoffe den jeweiligen Mutanten anpassen zu können. Ähnlich wie bei der Grippe werden wir uns wohl künftig regelmäßig gegen Corona impfen lassen müssen, wenn wir unser gewohntes Leben zurückhaben wollen.
Sie haben auch ein Exportverbot für Impfstoffe aus der EU ins Spiel gebracht. Warum ist das nötig?
Als Europäer haben wir bei der Impfstoffherstellung einen partnerschaftlichen Weg mit anderen Ländern gewählt und Impfstoffe in die Schweiz, nach Norwegen und sogar nach Kanada geliefert. Anders sieht es in den USA aus: Kein dort produzierter
Impfstoff verlässt das Land. Das ist nicht unser Weg, weil wir der Meinung sind, dass der Kampf gegen Corona nur gemeinsam gelingen kann. Aber wenn andere Staaten wie Großbritannien und die USA nicht bereit sind, ebenfalls partnerschaftlich zu handeln, dann darf die EU nicht naiv sein. Dann muss sie im Notfall ein Exportverbot für in der EU produzierte Impfstoffe aussprechen.
Wird die Corona-Pandemie die Europäische Union nach dem Brexit weiter schwächen. Oder wächst Europa in der Krise zusammen?
Die Corona-Krise hat uns in einen Abgrund schauen lassen, weil die Situation vor einem Jahr von Egoismen geprägt war. Deutschland hat damals ein Exportverbot für Masken in die EU verhängt. Das war ebenso wenig solidarisch wie die einseitigen Grenzschließungen, die massive wirtschaftliche Schäden verursacht haben, für die alle bezahlt haben. Die Wende kam erst im Sommer, als die EU den Wiederaufbaufonds in Höhe von 1,8 Billionen Euro beschlossen hat, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Da wurde vielen wieder bewusst, dass die Krise nur gemeinsam zu meistern ist.
Und was hat Europa aus der Krise bislang gelernt?
Meine Erkenntnis ist: Wir müssen die EU um eine Gesundheitsunion ergänzen. Das wird neben dem Schengenraum, dem Euro und der Wirtschaftsunion eines der großen Projekte in der Europäischen Union werden. Nicht nur bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie auch im Kampf gegen Krebs könnten wir viel weiter sein, wenn es eine gemeinsame Kraftanstrengung gäbe. An Krebs sind im vergangenen Jahr dreimal mehr Menschen als an Corona gestorben.
In Baden-Württemberg und Bayern haben viele Menschen den Eindruck, dass lange gewachsene Verbindungen zu Österreich und der Schweiz unter den Corona-Beschränkungen massiv leiden. Ist das im Sinne des oft bemühten europäischen Geistes?
Die Corona-Pandemie verursacht immense Schäden in den Grenzräumen. Sie dürfen nicht die Verlierer der Krise werden. Deswegen hat die Kommission recht, wenn sie zum Schutz der gemeinsamen Arbeitsmärkte aufruft. Natürlich braucht es klare Hygiene- und Teststrategien, aber die Pendler müssen die Mobilität haben, um ihrer Arbeit nachzukommen. Der Gesundheitsschutz hat zwar Priorität, deshalb sind die derzeitigen Kontrollen vertretbar, aber er lässt sich vereinbaren mit vernünftigen Regelungen in den Grenzräumen. Das ist genau die Erwartung, die ich habe. Wir verteidigen das Prinzip der Freizügigkeit. Dazu gehört auch eine Lösung für Pendler in Industriebetrieben, die nicht als systemrelevant eingestuft sind. Da muss Berlin nachsteuern.
Die EU hat weitere Sanktionen gegen Russland auf den Weg gebracht, um gegen die Verurteilung des Regimekritikers Nawalny zu protestieren. Was bringt das, wenn Deutschland gleichzeitig am Bau der Pipeline Nord Stream 2 festhält?
Wir Deutsche, wir Europäer müssen uns entscheiden: Geht es uns hier vor allem um Geschäfte, oder stehen wir an der Seite der Menschen, die in Belarus und auch in Russland auf die Straße gehen und für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat eintreten? USPräsident Joe Biden hat sich bei seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz klar positioniert. Das müssen wir auch tun. Für mich gibt es nur einen Platz: an der Seite der Demonstranten. Die Ideen, für die wir stehen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, kämpfen sich nach Osten vor. Das müssen wir unterstützen.
Was heißt das für Nord Stream 2?
Deutschland muss sich ehrlich machen. Nord Stream 2 ist kein reines Wirtschaftsprojekt, sondern sehr politisch. Die Pipeline ist eine der Optionen, um dem System Putin, das sich über Energielieferungen finanziert, seine Grenzen aufzuzeigen. Sollten die jetzt beschlossenen Maßnahmen keine weiteren Effekte zeigen, ist auch Nord Stream 2 ein Projekt, das auf dem Prüfstand stehen muss. Ich halte den Vorschlag aus den baltischen Staaten für einen Baustopp bis zur russischen Parlamentswahl im Herbst für überlegenswert.