Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Nazidokumente im Sessel versteckt
Historiker erzählt die überraschende Geschichte eines Stuttgarters
STUTTGART/LONDON (dpa) - Eine Studentin kaufte in Prag Ende der 1960er-Jahre einen alten Sessel und stellt sich keine Fragen zu dem vorherigen Besitzer – erst Jahrzehnte später wird sich das alte Möbelstück gewissermaßen äußern. Der Historiker Daniel Lee war 2011 gerade promoviert, als eine Freundin ihm auf einer Party eine Frau vorstellt. Sie bittet ihn um Rat – ihrer Mutter sei etwas Eigenartiges passiert. Sie berichtet Lee von einem Lehnsessel, den ihre Mutter vor einiger Zeit wegen eines Polsterwechsels zum Fachmann gebracht hatte. Der Polsterer entdeckte im Sessel eingenäht alte Papiere mit Hakenkreuzen.
Lee besorgte sich die Dokumente, darunter ein Pass, und entschied, der Geschichte von Robert Griesinger nachzugehen. „Etwas Verstecktes in einem Sessel zu finden, ist einfach unfassbar aufregend, weil es etwas Mysteriöses an sich hat“, sagt der Historiker der Queen Mary University of London im Interview. Solche Funde seien nicht so selten. Wenn er Fachleute frage, berichteten sie ihm oft, was sie schon alles gefunden haben.
Lee begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn nach Stuttgart, Berlin, Prag sowie in die USA und Schweiz führt. Mithilfe eines Telefonbuchs findet er in Stuttgart den Neffen des unbekannten Manns, der dort 1906 geboren war. Der Neffe wohnt im Geburtshaus des Onkels und steht der Recherche offen gegenüber. „Ich fühlte mich sehr erleichtert, dass sie nicht dachten, dass ich komplett verrückt war“, sagt Lee.
Er stößt in Stuttgart auf ein Tagebuch der verstorbenen Mutter. Je länger er die Spur verfolgt, desto stärker muss er sein anfängliches Bild revidieren. „Als ich in Prag herausfand, dass er in der SS war, war ich schockiert.“Nun sieht er Griesinger vorm inneren Auge als Mann mit berüchtigter schwarzer SS-Uniform, der Juden durch Straßen jagt. Griesinger war SS-Obersturmbannführer. Seine Geschichte mache ihn „zu einem Beispiel für Tausende von anonymen Tätern, deren Handlungen so viele Leben zerstört haben, deren Biografien aber nie ans Licht gebracht worden sind“.
Die Biografien von oberen Nationalsozialisten wie Hermann Göring oder Albert Speer sind bekannt. Gerade an Geschichten wie der von Robert Griesinger könne man ablesen, dass der Nationalsozialismus nicht einfach vom Himmel fiel, sondern vorher Weichen für das antisemitische und rassistische Weltbild gestellt worden seien. Gleichzeitig ist das Buch auch eine Reise durch die deutsche Geschichte zwischen 1848 und den jungen Jahren der Bundesrepublik. Lee verwebt geschickt historische Ereignisse und die persönliche Geschichte Griesingers; und er geht weiter in die Tiefe.
Lee, selbst Jude, ist nicht nur Historiker in seinem Buch. Er recherchiert parallel dazu auch die Geschichte seiner eigenen Familie, denn ein Teil davon hatte in der Nähe von Kiew gelebt und war den Nazis zum Opfer gefallen. Fazit: Ein berührendes Buch. dtv, 260 Seiten, 25 Euro.