Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Kinder-Leiden im Lockdown: Depressionen, Ängste und Zwänge
Experten der Region zu Auswirkungen der Corona-Pandemie im Alb-Donau-Kreis und Ulm – Alltag der Kinder wurde völlig verändert – Mehr psychische Auffälligkeiten
ULM - Die Lebensqualität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat sich in Deutschland im Verlauf der Pandemie zunehmend verschlechtert. Das geht aus der COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vom 10. Februar hervor. Demnach leide ein Jahr nach der Pandemie fast jedes dritte Kind zwischen sieben und 17 Jahren unter psychischen Auffälligkeiten. Nicht nur Sorgen und Ängste hätten zugenommen, sondern auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden.
„Es war ein Jahr, das unfassbar viele Herausforderungen an Kinder und Jugendliche gestellt hat. Viel mehr als man das am Anfang auf dem Schirm hatte – einfach auch durch die blanke Dauer der Lockdown-Phasen, der Isolierungen und der Ausgangsbeschränkungen“, resümiert Andreas Mattenschlager, Leiter der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Ulm/Alb-Donau. Der erfahrene Berater sieht in der Praxis, was die Studie belegt: „Eine Zunahme von Depressionen, Ängsten und Zwängen und zum Teil sehr zugespitzte Krisen bei Kindern und Jugendlichen. Das nehmen wir in unserer Beratungsstelle
wahr.“
Die Caritas arbeitet mit dem Modell des Psychologischen Psychotherapeuten Klaus Grawe, der für eine gesunde Entwicklung von Kindern vier Grundbedürfnisse benennt: Selbstwert, Selbstwirksamkeit, soziale Bindungen und Freude und lustvolles Erleben. Wenn diese Bedürfnisse erfüllt sind, entstehen laut Grawe, psychische Stärke und stabile Kinder, die belastbar seien und gesünder aufwachsen. Anhand dessen könne man versuchen zu verstehen, was während der Pandemie mit Kindern geschehen ist, so Mattenschlager: „In all diesen Bereichen haben Kinder Einschränkungen erlebt. Auch wenn es manche Familien geschafft haben, die soziale Bindung zu stärken, ist es vielen Familien misslungen. Zum anderen mussten die sozialen Kontakte nach außen eingeschränkt werden. Stichpunkt Selbstwirksamkeit: Wo erlebt ein Kind denn im Moment die Möglichkeit Ziele zu erreichen, die es hat und seine Kraft spürt? Und Freude: Wo gibt es gerade Möglichkeiten, Freude und lustvolle Erfahrungen zu sammeln?“
Für Andreas Mattenschlager zählen die unmittelbaren Veränderungen im sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen: „Freunde nicht sehen zu können, phasenweise völlig isoliert zu sein und zeitweise nicht einmal auf Spielplätze zu dürfen, aber auch die Belastung in den Familien durch das riesige Thema Corona, hat direkte Auswirkungen.“
Der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen und ihren Erziehungsberechtigten wurde durch die Beratungsstelle durchgehend aufrechterhalten. Das ganze Jahr hindurch haben die Berater Familien, in denen sich die Gesamtsituation sehr zugespitzt hat, auch in die Beratungsstelle eingeladen. Insbesondere in Fällen, in denen sie ernsthafte Sorge um Kinder und Jugendliche hatten.
Das Jugendamt, das den Auftrag hat, Kindern und Jugendlichen Schutz zu gewährleisten, hat Corona-bedingt eine gesamtgesellschaftliche Veränderung im Jahr 2020 wahrgenommen. Trotz Kontaktbeschränkungen war es für das Jugendamt unerlässlich, dass wo notwendig, eine persönliche in Augenscheinnahme, zum Beispiel bei Kindesschutzmeldungen, bei den Familien erfolgte. Doch die Arbeit wurde durch den Wegfall der Netzwerke erschwert: „Kinderschutzarbeit ist Netzwerkarbeit. Kindertagesstätten, Kindertagespflegen, Schulen und Vereine hatten keinen oder nur sehr eingeschränkten Kontakt zu Kindern und Jugendlichen, sodass wir von März bis Juli 2020 keine höheren Meldungen oder Hinweise für den Kinderschutz bekommen haben“, sagt Josef Barabeisch, Dezernent für Jugend und Soziales im AlbDonau-Landratsamt. Doch mit Blick auf die Kinderschutzmeldungen könne er sagen, dass im Vergleich zu 2019 keine exorbitante Erhöhung festzustellen sei.
2019 waren laut Jugendamt 238 Kinder und Jugendliche von Kindswohlgefährdung betroffen. Im Vergleich dazu sind im gesamten Jahr 2020 beim Jugendamt 247 solcher Anzeigen eingegangen, darunter 51 akute Gefährdungsmeldungen. Unter den eingegangenen Meldungen registrierten die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes 32 Vernachlässigungsfälle, 43 Fälle der körperlichen
Misshandlung, 23 Fälle psychischer Misshandlung und zwei Fälle mit Hinweis auf sexuelle Gewalt. „Alle 51 akuten Fälle wurden so bearbeitet, dass diese Kinder in Obhut genommen wurden“, so Barabeisch.
„Wir haben das Mögliche gemacht, um im Kontakt mit den Familien und Kindern zu bleiben und den Kinderschutz ernst genommen, wie vorher“, sagt Sabine Blessing, Fachdienstleiterin „Soziale Dienste, Familienhilfe“im Landratsamt Alb-Donau-Kreis. Blessing gesteht, dass dies eine große Herausforderung war. „Es mussten Kontaktbeschränkungen eingehalten werden, aber trotz Kontaktbeschränkungen gibt es immer noch die Möglichkeit, mit technischen Hilfsmitteln Kontakt zu halten. Das war sehr wichtig.“Sie erwähnt, dass die Corona-Krise wie ein Brennglas familiäre Problemlage beleuchtet hat: „Wenn Kinder und Jugendliche schon vorher Probleme hatten, haben sie die nachher immer noch.“Es sei nun wichtig, darauf hin zu arbeiten, um auf ein „gutes Miteinander“zu kommen. „Kinder konnten durch die Zeit zu Hause sich mit ihren Geschwistern und Eltern in soziale Auseinandersetzungen begeben – das mag bei dem einen oder anderen schwierig verlaufen sein. Aber ich bin mir sicher, dass wenn die Pandemie zurückgedrängt sein wird, wir mit unseren Angeboten Auffangmöglichkeiten für eine gute Stabilität bieten können“, so Blessing.
Mattenschlager erkennt, dass sich je nach Lebenssituation große Unterschiede bei den Auswirkungen zeigen: „Ob man in einem Haus wohnt und einen Garten hat oder zu sechst in einem Zimmer leben muss – wie es oft bei Geflüchteten der Fall ist –, macht einen gravierenden Unterschied.“Wohnbedingungen, finanzielle Möglichkeiten, sprachliche und technische Kenntnisse seien nur einige Faktoren, die die Situation von Kindern während der Pandemie drastisch beeinflusst haben. Die Kluft zwischen sozial starken und schwachen Familien sei größer geworden: „Natürlich macht es einen Unterschied, ob ich zuhause einen Schrank mit Spielzeugen habe und mit meinem Kind die Zeit sinnvoll verbringen kann, oder ob der Schrank leer ist.“Mattenschlager weiter: „Die Kinder waren für eine Weile wie verschwunden. Sie konnten weder dem Schulsozialarbeiter noch der Erzieherin ein Signal geben, dass es zu Hause brennt.“Nur außerhalb der eigenen vier Wände sei es Kindern möglich, eine Lösung gegen häusliche Gewalt zu finden. Das war phasenweise nicht möglich.