Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Architektin des britischen Impferfolgs
Die Bankerin Kate Bingham hat Großbritannien durch die Impfkampagne gelotst und dabei einiges richtig gemacht
LONDON - Diese Woche erinnerte ein Auftritt im Unterhaus die Briten an die schlimmsten Momente des zurückliegenden Corona-Jahres. Zu Gast im Wissenschaftsausschuss war die Symbolfigur der Brexitregierung, Premier Boris Johnsons einstiger Chefberater Dominic Cummings. Der Vordenker der „Vote Leave“-Bewegung war wie kaum ein anderer dafür verantwortlich, dass sein Chef nach dem Brexit alle Routiniers aus dem Kabinett feuerte – einer der Gründe, warum die britische Regierung im Kampf gegen Sars-CoV-2 zunächst hilflos, ja amateurhaft wirkte.
Verheerende Fehlentscheidungen, Missachtung der Warnungen von Wissenschaftlern, zu später Lockdown, praktisch unkontrollierte Grenzen, mangelhafter Schutz von Alten- und Pflegeheimen, keine effiziente Rückverfolgung von Kontakten trugen dazu bei, dass die Insel mehr als 130 000 Corona-Tote zu beklagen hat, die schlimmste Rate vergleichbar großer Industriestaaten. Cummings trug zum Vertrauensverlust der Regierung bei, als bekannt wurde, dass er im Lockdown trotz Corona-Infektion zur Arbeit in der Downing Street gegangen und später 400 Kilometer Auto gefahren war. Beides war damals streng verboten.
Gegenpol zum sinistren Cummings ist Kate Bingham. Sie ist für das britische Tempo bei den Impfungen verantwortlich. Bei der erfahrenen Wagniskapital-Bankerin meldete sich im vergangenen Frühjahr der von schwerer Covid-Erkrankung genesene Premierminister Johnson. Das
Land brauche sie als Leiterin einer Taskforce für den Ankauf von Impfstoffen, soll Johnson gesagt haben. Bingham zögerte, wie sie der BBC anvertraute: „Traue ich mir das zu?“
Nach ihrem Biochemie-Studium in Oxford (Note Eins) und einem MBA in Harvard arbeitete die älteste Tochter des früheren höchsten Richters des Landes, Lord Thomas Bingham, bei Schroder Ventures, heute SV Health Investments. Dort betreute sie den Biotechnik-Sektor, investierte in junge Start-ups, deren neue Medikamente Fortschritte bei der Heilung von Krankheiten versprachen. „Mein Leben besteht daraus zu fragen: Welche tollen Ideen gibt es, und wie können wir sie in Medikamente umsetzen, die den Patienten weiterhelfen? Es ist der aufregendste Job der Welt“, hat die Bankerin in der „Times“geschwärmt.
Längst gehörte die Mutter dreier erwachsener Kinder und HobbyOboistin dem Aufsichtsrat des weltberühmten Crick-Instituts an, diente als Mitglied des Regierungsgremiums zur Förderung von Life-Science-Unternehmen. Johnsons wissenschaftlichem Chefberater Patrick Vallance war die Expertin also wohlbekannt, als er dem Chef den Anruf bei Bingham empfahl. Diesem dürfte die nach eigenen Angaben unpolitische Spitzenmanagerin in anderer Hinsicht ein
Begriff gewesen sein, nämlich als Frau des Tory-Abgeordneten und Finanzstaatssekretärs Jesse Norman.
Binghams Zusage zur Abordnung für sechs Monate ohne jede Vergütung beruhte auf direktem Zugang zum Premierminister und wenig Bürokratie: „Wenn sie 58 Leute einkopieren müssen, werden keine schnellen Entscheidungen getroffen.“Genau diese aber waren nötig, um dem Land möglichst guten Zugang zu vielen Impfdosen zu sichern. Von Anfang an behielt Binghams Team nicht nur die Impfstoff-Forschung, sondern auch die anschließende industrielle Fertigung der Medikamente im Auge. Dafür wurden sowohl die Wissenschaftler an der Uni Oxford wie auch die beteiligten Firmen, vor allem Astra-Zeneca, großzügig subventioniert und
Abnahmemengen vereinbart. Auch galt für ihre Impfstoffe nicht die sonst übliche Produkthaftung.
Biontech/Pfizer erhielt einen Auftrag über 40 Millionen Dosen, bei Astra-Zeneca orderte Bingham sogar 100 Millionen. Als dritter Impfstoff ist mittlerweile auch das Präparat der US-Firma Moderna freigegeben, vom Frühjahr an erwarten die Briten von dort weitere 17 Millionen Dosen. Mit der deutschen Firma Curevac ist der Kauf von zusätzlichen 50 Millionen Dosen vereinbart, falls sich deren Wirkstoff in den klinischen Versuchen als geeignet erweist. Insgesamt schloss das Team um Bingham Verträge über potenziell 357 Millionen Dosen und damit fünfmal so viel wie die derzeitige Bevölkerung des Landes (66 Millionen). Dabei habe der Preis eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle gespielt, berichtete die Bankerin der deutschen „Welt“.
Als entscheidend für das Gelingen ihrer Aufgabe war für Bingham die Einrichtung einer Datenbank, mit der das Nationale Gesundheitssystem NHS rasch bis zu 400 000 Freiwillige aller Altersstufen für Medikamentenforschung zusammentrommeln kann. Dies ermöglichte den Unternehmen die Beschleunigung der wichtigen klinischen Versuchsreihen, auf denen wiederum die rasche Zulassung durch die Arzneimittelbehörde MHRA beruhte.
Inzwischen sind auf der Insel mehr als 25 Millionen Menschen über 50 Jahre mindestens einmal gegen Sars-CoV-2 geimpft, dieser Tage ist es auch beim 56-jährigen Premier soweit.