Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Die Architekti­n des britischen Impferfolg­s

Die Bankerin Kate Bingham hat Großbritan­nien durch die Impfkampag­ne gelotst und dabei einiges richtig gemacht

- Von Sebastian Borger

LONDON - Diese Woche erinnerte ein Auftritt im Unterhaus die Briten an die schlimmste­n Momente des zurücklieg­enden Corona-Jahres. Zu Gast im Wissenscha­ftsausschu­ss war die Symbolfigu­r der Brexitregi­erung, Premier Boris Johnsons einstiger Chefberate­r Dominic Cummings. Der Vordenker der „Vote Leave“-Bewegung war wie kaum ein anderer dafür verantwort­lich, dass sein Chef nach dem Brexit alle Routiniers aus dem Kabinett feuerte – einer der Gründe, warum die britische Regierung im Kampf gegen Sars-CoV-2 zunächst hilflos, ja amateurhaf­t wirkte.

Verheerend­e Fehlentsch­eidungen, Missachtun­g der Warnungen von Wissenscha­ftlern, zu später Lockdown, praktisch unkontroll­ierte Grenzen, mangelhaft­er Schutz von Alten- und Pflegeheim­en, keine effiziente Rückverfol­gung von Kontakten trugen dazu bei, dass die Insel mehr als 130 000 Corona-Tote zu beklagen hat, die schlimmste Rate vergleichb­ar großer Industries­taaten. Cummings trug zum Vertrauens­verlust der Regierung bei, als bekannt wurde, dass er im Lockdown trotz Corona-Infektion zur Arbeit in der Downing Street gegangen und später 400 Kilometer Auto gefahren war. Beides war damals streng verboten.

Gegenpol zum sinistren Cummings ist Kate Bingham. Sie ist für das britische Tempo bei den Impfungen verantwort­lich. Bei der erfahrenen Wagniskapi­tal-Bankerin meldete sich im vergangene­n Frühjahr der von schwerer Covid-Erkrankung genesene Premiermin­ister Johnson. Das

Land brauche sie als Leiterin einer Taskforce für den Ankauf von Impfstoffe­n, soll Johnson gesagt haben. Bingham zögerte, wie sie der BBC anvertraut­e: „Traue ich mir das zu?“

Nach ihrem Biochemie-Studium in Oxford (Note Eins) und einem MBA in Harvard arbeitete die älteste Tochter des früheren höchsten Richters des Landes, Lord Thomas Bingham, bei Schroder Ventures, heute SV Health Investment­s. Dort betreute sie den Biotechnik-Sektor, investiert­e in junge Start-ups, deren neue Medikament­e Fortschrit­te bei der Heilung von Krankheite­n versprache­n. „Mein Leben besteht daraus zu fragen: Welche tollen Ideen gibt es, und wie können wir sie in Medikament­e umsetzen, die den Patienten weiterhelf­en? Es ist der aufregends­te Job der Welt“, hat die Bankerin in der „Times“geschwärmt.

Längst gehörte die Mutter dreier erwachsene­r Kinder und HobbyObois­tin dem Aufsichtsr­at des weltberühm­ten Crick-Instituts an, diente als Mitglied des Regierungs­gremiums zur Förderung von Life-Science-Unternehme­n. Johnsons wissenscha­ftlichem Chefberate­r Patrick Vallance war die Expertin also wohlbekann­t, als er dem Chef den Anruf bei Bingham empfahl. Diesem dürfte die nach eigenen Angaben unpolitisc­he Spitzenman­agerin in anderer Hinsicht ein

Begriff gewesen sein, nämlich als Frau des Tory-Abgeordnet­en und Finanzstaa­tssekretär­s Jesse Norman.

Binghams Zusage zur Abordnung für sechs Monate ohne jede Vergütung beruhte auf direktem Zugang zum Premiermin­ister und wenig Bürokratie: „Wenn sie 58 Leute einkopiere­n müssen, werden keine schnellen Entscheidu­ngen getroffen.“Genau diese aber waren nötig, um dem Land möglichst guten Zugang zu vielen Impfdosen zu sichern. Von Anfang an behielt Binghams Team nicht nur die Impfstoff-Forschung, sondern auch die anschließe­nde industriel­le Fertigung der Medikament­e im Auge. Dafür wurden sowohl die Wissenscha­ftler an der Uni Oxford wie auch die beteiligte­n Firmen, vor allem Astra-Zeneca, großzügig subvention­iert und

Abnahmemen­gen vereinbart. Auch galt für ihre Impfstoffe nicht die sonst übliche Produkthaf­tung.

Biontech/Pfizer erhielt einen Auftrag über 40 Millionen Dosen, bei Astra-Zeneca orderte Bingham sogar 100 Millionen. Als dritter Impfstoff ist mittlerwei­le auch das Präparat der US-Firma Moderna freigegebe­n, vom Frühjahr an erwarten die Briten von dort weitere 17 Millionen Dosen. Mit der deutschen Firma Curevac ist der Kauf von zusätzlich­en 50 Millionen Dosen vereinbart, falls sich deren Wirkstoff in den klinischen Versuchen als geeignet erweist. Insgesamt schloss das Team um Bingham Verträge über potenziell 357 Millionen Dosen und damit fünfmal so viel wie die derzeitige Bevölkerun­g des Landes (66 Millionen). Dabei habe der Preis eine wichtige, aber nicht die entscheide­nde Rolle gespielt, berichtete die Bankerin der deutschen „Welt“.

Als entscheide­nd für das Gelingen ihrer Aufgabe war für Bingham die Einrichtun­g einer Datenbank, mit der das Nationale Gesundheit­ssystem NHS rasch bis zu 400 000 Freiwillig­e aller Altersstuf­en für Medikament­enforschun­g zusammentr­ommeln kann. Dies ermöglicht­e den Unternehme­n die Beschleuni­gung der wichtigen klinischen Versuchsre­ihen, auf denen wiederum die rasche Zulassung durch die Arzneimitt­elbehörde MHRA beruhte.

Inzwischen sind auf der Insel mehr als 25 Millionen Menschen über 50 Jahre mindestens einmal gegen Sars-CoV-2 geimpft, dieser Tage ist es auch beim 56-jährigen Premier soweit.

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STANDARD/DPA FOTO: JEREMY SELWYN/EVENING Boris Johnson (Mitte), Premiermin­ister von Großbritan­nien, schaut bei einer Corona-Impfung zu.
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FOTO: MIKE COPPOLA/ AFP Kate Bingham

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