Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Kardinal Meisner schützte „Brüder im Nebel“
Missbrauchsgutachten weist Pflichtverletzungen seit Jahrzehnten nach – Kardinal Woelki entlastet - Erzbischof Heße verzichtet auf Amt
KÖLN/HAMBURG - Zwei Bischöfe, die dem Papst ihren Rücktritt anbieten. Ein hoher Kirchenjurist, der vorläufig freigestellt wird. Schwere Anschuldigungen gegen zwei inzwischen verstorbene Kardinäle und Kölner Erzbischöfe. Und die Entlastung für den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki: Das Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsvorwürfen im Erzbistum Köln hat am Donnerstag ein personelles Erdbeben in der deutschen katholischen Kirche ausgelöst. Ob es weitere Maßnahmen geben wird, ist nicht absehbar.
Es ist 17.28 Uhr an diesem Donnerstag, als die Presseagenturen melden: „Erzbischof Heße bietet Papst Amtsverzicht an.“Damit zieht der Hamburger Oberhirte die persönlichen Konsequenzen aus den Anschuldigungen gegen ihn, die seit dem Vormittag öffentlich sind: Der Strafrechtler Björn Gercke wirft in seinem Gutachten dem früheren Personalchef im Erzbistum Köln elf Pflichtverletzungen vor.
Gerckes Kanzlei hatte seit Oktober 2020 ausschließlich geprüft, ob die Verantwortlichen im rheinischen Erzbistum die Gespräche mit Opfern und Tätern regelkonform geführt, dokumentiert und kommuniziert hatten. Laut Aktenlage hatten die Juristen dabei insgesamt 75 Pflichtverletzungen von acht lebenden und verstorbenen Verantwortlichen von 1975 bis 2018 ausgemacht. Es ging um Übergriffe und Grenzverletzungen von insgesamt 202 Beschuldigten, davon knapp zwei Drittel Kleriker. Die Zahl der Opfer beläuft sich auf 314, darunter 178 männliche und 119 weibliche. Bei 17 Opfern gab es keine Angabe zum Geschlecht.
Zurück zu Heße: Der 54-Jährige ist seit 2015 Erzbischof von Hamburg und war zuvor ab 2006 Personalchef und danach Generalvikar im Erzbistum Köln. In dieser Funktion musste er sich mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Priester auseinandersetzen. Ihm attestieren die Gutachter elf Pflichtverletzungen in neun Aktenvorgängen – gemessen am staatlichen und kirchlichen Recht sowie am kirchlichen Selbstverständnis.
Nach dem Aktenstudium und Anhörung Heßes werfen die Gutachter ihm zum Beispiel vor, sein Einverständnis gegeben zu haben, dass über ein Gespräch mit einem beschuldigten Priester kein offizielles Protokoll geführt wurde. So habe er möglicherweise die Akte des Beschuldigten „sauber“halten wollen. Andere Fälle soll er nur als Grenzverletzungen und nicht als Missbrauch eingestuft haben.
Heße hatte den Gutachtern gesagt, bei Übernahme des Amts des Personalchefs nicht auf den Umgang mit Missbrauchsfällen vorbereitet gewesen zu sein. Er versicherte, alle eingegangenen Verdachtsfälle an den damaligen Erzbischof gemeldet zu haben. Bisher hatte Heße aber die Vorwürfe bestritten.
Gutachter Björn Gercke
Am Donnerstagabend aber bietet er dem Papst seinen Amtsverzicht an, „um Schaden vom Amt des Erzbischofs sowie vom Erzbistum Hamburg abzuwenden“. Damit ist Heße der erste deutsche Diözesanbischof, der persönliche Verantwortung im Missbrauchsskandal übernimmt.
Der Tag beginnt mit der Vorstellung des Gutachtens, das 900 Seiten dick ist. Es war mit Spannung erwartet worden, nachdem der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ein erstes Gutachten unter Verschluss gehalten und nicht veröffentlicht hatte. Die Frage, ob Woelki persönliche Verfehlungen vorgeworfen werden, stand seit Monaten im Raum.
Es ist 10.46 Uhr, als Woelki aufatmen kann: Soeben hat Gercke dem Kardinal attestiert, dass ihn keine Vorwürfe treffen. Auch den in den vergangenen Wochen laut gewordenen Vertuschungsverdacht gegen Woelki selbst entkräftet das Gutachten.
Dann aber folgen Vorwürfe gegen Stefan Heße, Dominikus Schwaderlapp, früher Generalvikar des Erzbistums und heute Weihbischof, sowie Günter Assenmacher, als Offizial unter anderem für kirchengerichtliche Angelegenheiten zuständig.
Die Gutachter berichten von Chaos, Schlamperei, Überforderung, Arroganz: Wenn man Gercke zuhört, bekommt man den Eindruck, dass weniger diabolischer Vorsatz hinter dem Vorgehen stand als Inkompetenz und Bequemlichkeit. „Vielmehr ging es offenbar darum, Reputationsschäden von der Kirche abzuwenden und den einzelnen Beschuldigten weiter im System Kirche zu lassen. Ebenfalls nicht erkennbar ist ein planvolles kollektives Zusammenwirken mehrerer Personen oder gar eine Dienstanweisung von oben. Vielmehr drängte sich das Bild eines völlig unkoordinierten, ja teilweise planlosen Handelns auf.“Man sei auf „ein System der Unzuständigkeit, der fehlenden Kontrollmöglichkeiten und der Intransparenz“gestoßen.
Und dies seit vielen Jahren: Denn Versäumnisse sieht Gercke vor allem bei Woelkis Vorgänger Joachim Meisner (1933 bis 2017). Auf dessen Konto gehe ein Drittel aller festgestellten Pflichtverletzungen, mehr als 20. Mehr als 1000 Worte sagt vielleicht der Titel des Aktenordners, in dem Meisner die geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen aufbewahrte: „Brüder im Nebel“. Weitere Pflichtverletzungen wurden bei Meisners Vorgänger Kardinal Joseph Höffner (1906 bis 1987) festgestellt.
Nach dem Gutachter tritt Woelki ans Rednerpult und kündigt an, dass er zwei Verantwortungsträger vorläufig von ihren Aufgaben entbindet: den Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und den Kirchenjuristen, Offizial Günter Assenmacher.
Was mit den beiden Bischöfen Schwaderlapp und Heße nun weiter geschieht, entscheidet allein der Papst. Die beiden könnten nach Annahme des Amtsverzichts die ersten Bischöfe sein, die wegen des Missbrauchsskandals in der deutschen katholischen Kirche ihr Amt verlieren.
Der 2017 verstorbene Kölner Kardinal Joachim Meisner soll mutmaßliche Missbrauchstäter („Brüder im Nebel“) geschützt haben.
„Vielmehr ging es offenbar darum, Reputationsschäden von der Kirche abzuwenden.“