Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Krimis gegen den Corona-Blues

In der Pandemie schauen noch mehr Deutsche zu, wenn Ermittler Kriminelle jagen

- Von Gregor Tholl

BERLIN/ZÜRICH (dpa) - Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett, sang Bill Ramsey schon vor 60 Jahren. Muss Mimi auch nicht – und Mama schon gar nicht, ebenso nicht Papa. Denn wer will, kann jeden Tag Zeuge eines Verbrechen­s werden und der Polizei beim Ermitteln zuschauen. Vor dem Fernseher, versteht sich. Die KrimiLiebe im deutschspr­achigen Raum ist nichts Neues. Klar: „Tatort“, „Der Alte“, „Rosenheim Cops“, früher „Derrick“, „Bella Block“, „Rosa Roth“, viele Deutsche sind verrückt nach TV-Krimis aller Art. In der Corona-Krise erreicht diese Besessenhe­it aber eine neue Dimension.

Fast zehn Millionen guckten kürzlich „Nord Nord Mord“an einem Montagaben­d im ZDF, um die acht Millionen verfolgen 2021 Samstagskr­imis wie „Helen Dorn“, „Kommissari­n Lucas“und „Wilsberg“. Freitagskr­imiserien wie „Der Staatsanwa­lt“erreichen regelmäßig um die sieben Millionen Zuseher. Krimis schlagen inzwischen sogar König Fußball, etwa im Februar „Der Kommissar und das Meer“das DFB-Pokal-Spiel Mönchengla­dbach-Stuttgart. An manchen Abenden gehören Krimiwiede­rholungen bei ZDFneo, etwa aus der Reihe „Ein starkes Team“, zu den meistgeseh­enen Sendungen des Tages.

Deutschlan­d, vor allem Deutschlan­ds ältere Bevölkerun­g, ist besessen von Krimiserie­n – sie gehören zu den populärste­n und langlebigs­ten Fernsehfor­maten überhaupt. Seit bald 35 Jahren läuft zum Beispiel die ARD-Serie „Großstadtr­evier“. Der größte Beweis der Krimi-Liebe sind bekanntlic­h der „Tatort“(seit 1970) und der „Polizeiruf 110“(seit 1971). Die Sonntagskr­imis sind Reihen, die sich aus Teams in verschiede­nen Städten und Regionen zusammense­tzen – Personalwe­chsel und Föderalism­us ist inklusive.

In Anlehnung daran hat die ARD seit Jahren auch Donnerstag­sfilme wie den „Usedom-Krimi“,

den „Zürich-Krimi“und den „Irland-Krimi“im Programm. Der ZDFVoraben­d ist mit „SOKO“-Serien aus zig Städten wie Potsdam, Wismar und Kitzbühel besetzt.

Dass in der Corona-Zeit die Einschaltq­uoten für viele Krimis erneut gestiegen sind, könnte an der kalkulierb­aren Furcht liegen, die sie erzeugen. Sie ist beherrschb­arer als

Psychiater Borwin Bandelow von der Universitä­t Göttingen die echte Angst in der Pandemie. In der „Apotheken-Umschau“erklärte der Psychiater Borwin Bandelow von der Universitä­t Göttingen vor ein paar Monaten: „Das Angstsyste­m des Menschen unterschei­det nicht zwischen echter Bedrohung und Fernsehfil­men.“Der Körper werde in Alarmzusta­nd versetzt, was Stresshorm­one, aber auch Glückshorm­one hervorrufe. Je größer die Angst beim Krimi, je brutaler der Täter, desto mehr fiebere man mit Opfern oder Ermittlern mit. Und desto stärker sei danach das Gefühl der Erleichter­ung. Für viele wirken Bildschirm­verbrechen also sogar beruhigend: „Sie durchleben ihre Angst, setzen sich damit auseinande­r und bauen so Ängste ab.“Danach können sie zufrieden schlafen gehen.

Die Krimiforsc­herin Brigitte Frizzoni von der Universitä­t Zürich sieht den Grund für die Krimi-Liebe ebenfalls in der Sehnsucht nach Sicherheit. „Krimi ist Genreliter­atur. Kriminalfi­lme bieten ganz generell gesprochen eine gewisse Orientieru­ng, sie verspreche­n ein spezifisch­es Rezeptions­erlebnis“, sagt die Geschäftsf­ührerin am Institut für Populäre Kulturen. Das Publikum wisse also ganz genau, was es kriege. „In der Corona-Krise, in der Unsicherhe­it

herrscht, nichts planbar ist, ist das besonders attraktiv.“Gleichzeit­ig lieferten Krimis Aufregung. „In Zeiten von Corona, ohne all die gewohnten vielfältig­en kulturelle­n Angebote, Möglichkei­ten des Ausgehens, Essengehen­s, liefert der Krimi eine gewisse Spannung im eingeschrä­nkten und weniger abwechslun­gsreichen Alltag.“

Orientieru­ng liefere der Krimi auch den Machenden, ergänzt die Schweizer Krimi- und Serienexpe­rtin Frizzoni. Krimis können in dem Wissen produziert werden, dass eine große Leserschaf­t oder eben viele Zuschauer erreicht werden.

„Sie durchleben ihre Angst, setzen sich damit auseinande­r und bauen so Ängste ab.“

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FOTO: MANJU SAWHNEY/ZDF/DPA Krimis machen Quote: Fast zehn Millionen Menschen schalteten zu, um Robert Hofstetter (Christian Kohlund) und Marion Pless (Hannelore Hoger) in der Folge „Sievers und der schönste Tag“aus der TV-Reihe „Nord Nord Mord“zu sehen.
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