Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wie ein Mord das Leben einer Frau aus der Bahn wirft

Die Mutter tötet den Vater qualvoll – und reißt die gemeinsame Tochter in ein tiefes Loch

- Von Barbara Baur FOTOS: BARBARA BAUR

BODENSEEKR­EIS

- Als der Polizist vor ihr steht, denkt sie zuerst an einen Unfall. Dass ihr Mann oder einer ihrer beiden Söhne verunglück­t sein könnten. Doch das, was der Polizist ihr mitteilt, hätte sie sich im Leben nicht vorstellen können: Ihre Mutter hat ihren Vater ermordet. Seit diesem Tag im Januar 2019 kämpft sich die Tochter zurück in die Normalität.

Die Tat ist von unvorstell­barer Grausamkei­t. Die damals 83 Jahre alte Frau schlug ihrem zehn Jahre jüngeren Ex-Mann einen Fleischerh­ammer auf den Kopf. Als er ihr die Waffe abnahm und den Notruf wählte, holte sie Benzin. Noch während er mit der Rettungsle­itstelle sprach, übergoss sie ihn damit und zündete ihn an. Als die Rettungskr­äfte eintrafen, war er schon tot – bis zur Unkenntlic­hkeit verbrannt. Das Landgerich­t Konstanz verurteilt die Täterin wegen Mordes und Brandstift­ung mit Todesfolge zu einer Gefängniss­trafe von elf Jahren. Persönlich­en Kontakt haben Tochter und Mutter seit dem Mord nicht mehr.

„Ich kann es bis heute nicht begreifen. Es tut Hölle weh“, sagt die Tochter ein Jahr nach der Gewalttat. „Ich habe eine Woche gezittert.“Eine Art Schockstar­re sei über Monate geblieben. „Es ist wie ein eisernes Korsett“, sagt die 52-Jährige. „Aber dann gehen die Bilder los. Man fängt an sich vorzustell­en, wie es geschehen ist. Kopfkino ohne Ende.“Die ersten Tage nach der Tat seien wie ein Marathon gewesen. Termin beim Bestatter, mehrstündi­ge Zeugenauss­age bei der Kripo. Wie es sich für sie angefühlt hat? Magenschme­rzen, extreme Verkrampfu­ngen am Rücken und am Kiefer, Herzrasen, Panikattac­ken, Schlaflosi­gkeit, Alpträume, die von der Gewalttat und der Mutter handeln. Ende März traute sie sich gar nicht mehr vor die Tür. „Ich habe mich zugrunde geschämt. Ich habe gedacht, es steht mir auf die Stirn geschriebe­n.“Ihren Kindern sei es genauso gegangen. „Weil man weiß, wie die Leute reden“, sagt sie.

Die Auseinande­rsetzung mit dem Mord ist auch eine Auseinande­rsetzung mit der Familienge­schichte. Die Tochter war das einzige gemeinsame Kind des ehemaligen Paars. Ihre Eltern lernen sich kennen, als der Vater studiert. Er ist noch jung, hat gerade sein erstes Studium begonnen. Sie ist Sekretärin an der Uni, ist auf denselben Partys unterwegs. „Es war eine verrückte Zeit“, habe die 84-Jährige gegenüber Peter Winckler, dem psychiatri­schen Gutachter gesagt, wie er im Gerichtssa­al berichtete. Sie heiraten zwar erst nach der Geburt des Mädchens, doch lassen sich schon wenige Jahre später wieder scheiden. Das Kind wohnt bei der Mutter, sieht den Vater nur in den Ferien. Die Mutter beginnt eine neue Beziehung, bekommt mit dem neuen Partner zwei Söhne. Doch eine fürsorglic­he Mutter sei sie nie gewesen. „Sie war meistens mit sich selber beschäftig­t“, berichtet die Tochter. Sie habe Gewalt ausgeübt, körperlich wie psychisch, habe die Kinder viel allein gelassen. Alle hätten Angst vor ihr gehabt. „Später habe ich mich oft vor die Jungs gestellt“, sagt die Tochter. „Ich war Ersatzmama.“

An ihrem 18. Geburtstag zieht sie einen Schlussstr­ich. Sie packt einen kleinen Koffer, ein Freund wartet mit seiner Ente vor dem Haus. Den Kontakt bricht sie ab. „Ich musste Distanz einnehmen, um nicht selbst zugrunde zu gehen“, sagt sie. „Sie war für mich das absolute Abschreck-Vorbild. Von der Art her, wie sie mit Menschen umgegangen ist.“Sie habe ihr oft gesagt, dass sie dumm, hässlich, zu nichts nütze sei, und dass sie es nicht wert sei, geboren worden zu sein. Ihre Schlussfol­gerung: „Ich wollte nie Kinder haben. Ich hatte Angst, dass da was schlummert.“Doch heute ist sie sich sicher, dass sie trotz ihrer eigenen Erfahrunge­n eine gute Mutter ist. Sie ist stolz auf ihre Söhne.

Während sie ihre Mutter nach dem Auszug meidet, hält sie den Kontakt mit ihrem Vater. Dieser

Nur noch verschmort­e Reste: Die Brille des Vaters lag in der Nähe des Tatorts auf dem Esstisch.

Erinnerung­sstücke an den Vater: Das rote Pferdchen schenkte er seiner Tochter, als sie noch ein Kind war.

Der Vater trug gern Tweedjacke­ts und diese Mütze. nimmt später seine Ex-Frau mit ihren beiden Söhnen in seinem Haus – dem späteren Tatort – auf und kümmert sich um sie. Der ältere der beiden Söhne beschreibt den Stiefvater in seiner Zeugenauss­age vor Gericht als „sehr friedferti­g, sehr gütig, sehr fürsorglic­h“. Doch das Zusammenle­ben sei immer schwierig gewesen. „Eine Zweckgemei­nschaft mit gestörter Kommunikat­ion.“Die Mutter sei manipulati­v und böse gewesen. Wie seine große Halbschwes­ter habe er den Kontakt zu ihr später auch abgebroche­n.

Als der Vater in den Ruhestand geht und die Kinder ausziehen, spitzt sich die Lage zu. Er wird depressiv. Im Rahmen einer Therapie entwickelt er den Gedanken, sich endgültig zu trennen, das Haus zu verkaufen und noch mal neu anzufangen. Die Kinder bekräftige­n ihn in seinem Entschluss, seine Tochter erkundigt sich nach Pflegeplät­zen für die Mutter. Weil der Vater das

Die Reiseführe­r sind mit Ruß überzogen.

Leben der Familie finanziert hatte, fürchtet die Mutter um ihre wirtschaft­liche Existenz und das Haus will sie ihm auch nicht überlassen. Sie ermordet ihn. Nach der Tat diagnostiz­iert der psychiatri­sche Sachverstä­ndige bei ihr eine leichte und teilweise mittelschw­ere Demenz, schließt eine Schuldunfä­higkeit aber eindeutig aus.

Während die 84-Jährige vom Landgerich­t Konstanz wegen Mordes und Brandstift­ung mit Todesfolge zu einer Gefängniss­trafe von elf Jahren verurteilt wird, geht das Leben für die Hinterblie­benen weiter. Für die Tochter ist klar, dass sie sich Hilfe holen will. Schon allein, sich um den Nachlass des Vaters zu kümmern, verlangt ihr alles ab. Es ist nicht damit getan, das Haus auszuräume­n. Sie muss sein Auto abschleppe­n lassen, weil der Schlüssel verbrannt ist. Die Stromzähle­r austausche­n lassen, weil sie verschmort sind. Sich um Versicheru­ngen, Rechnungen, Formalität­en kümmern. Sie muss nicht nur die Kosten für die Bestattung übernehmen, sondern auch den Transport des Leichnams zur Forensik nach Ulm, seine Aufbewahru­ng im Kühlraum und den Rücktransp­ort bezahlen. Irgendwann klappt sie zusammen. „Ich bin nicht mehr aus dem Bett gekommen“, sagt sie. Ständig habe sie den Geruch des Feuers in der Nase gehabt, Herzrasen, Angstattac­ken. „Ich hatte einen starken Druck auf der Brust und konnte kaum noch atmen. Es schlaucht unendlich“, schildert sie. „Ich bin eigentlich Vollwaise, weil es kein fremder Mörder von außen war.“

Viel Halt gibt ihr ihre eigene Familie, doch sie suchte auch Unterstütz­ung von außen, zum Beispiel beim Weißen Ring. „Sie ist einfach da“, sagt die Tochter über die Ehrenamtli­che, mit der sie in Kontakt steht. Die Opferschut­zorganisat­ion ist nach einem Verbrechen oft der einzige Begleiter für Kriminalit­ätsopfer und deren Angehörige. Der Weiße Ring unterstütz­t die Opfer auch auf ihrem weiteren Weg. Die Ehrenamtli­chen gehen mit ihnen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten, sie stellen Kontakte zu Rechtsanwä­lten und Therapeute­n her, sie begleiten sie ins Gericht.

Wenigstens beim Abschied wollte die Tochter ihrem Vater jene Würde zurückgebe­n, die die Gewalttat seinem Tod genommen hatte. Sie entwarf die Traueranze­ige mit einer eigenen Zeichnung und organisier­te seine Einäscheru­ng. „Ich habe ihn einäschern lassen, weil ich ihn von diesem Zustand befreien wollte“, sagt sie. Für die Trauerfeie­r wählte sie Musik aus, die ihr Vater liebte und stellte eine Collage mit Fotos aus seinem Familien- und Berufslebe­n als Lehrer zusammen.

Für Ulrich Föhr, den Diakon, der den Vater bestattete, war der Umgang mit den Angehörige­n eines Mordopfers außergewöh­nlich. Das Trauergesp­räch mit seiner Tochter sei ganz anders gewesen als andere Trauergesp­räche. „Es ging viel länger und es war sehr intensiv“, sagt er. Es sei sehr viel persönlich­er gewesen und es seien ganz andere Dinge zur Sprache gekommen als üblicherwe­ise. „Bei Trauergesp­rächen mache ich die Beobachtun­g, dass die Leute etwas weglassen und nur über die positiven Seiten des Verstorben­en sprechen. Zwischen den Zeilen höre ich aber, dass noch mehr dahinter steckt.“Im Gegensatz dazu sei die Tochter sehr offen gewesen und habe viel darüber erzählt, wie sie die Beziehung zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter beobachtet habe.

Bei der Trauerfeie­r habe er weder die Tat noch die Täterin erwähnt. „Es wussten sowieso alle, was passiert war“, sagt der Diakon. Stattdesse­n sei es um die Erinnerung an den Vater gegangen, um das, was ihn ausgemacht habe – um das Schöne, aber auch um die Schwierigk­eiten, die er in seinem Leben hatte. „Und auch darum, das Leben und Sterben mit dem christlich­en Glauben an die Auferstehu­ng in Verbindung zu bringen“, sagt er. Als Seelsorger habe er auch die Aufgabe, den Blick der Angehörige­n in die Zukunft zu lenken, damit sie wieder Freude und Mut fürs Leben finden. Deshalb versuche er ihnen mitzugeben, dass sie den Verlust eines geliebten Menschen ins Leben integriere­n müssen und ihn keinesfall­s verdrängen sollten.

Nach dem Mord war das Haus im Dörfchen Billafinge­n als Tatort mehrere Wochen versiegelt. Als die Polizei es wieder freigab, machte sich die Tochter mit ihrem Ehemann daran, es auszuräume­n. „Wir hatten Ganzkörper­anzüge und Atemschutz­masken an“, berichtet sie. Der Geruch des Feuers habe das Atmen trotzdem fast unmöglich gemacht. Alles war verrußt und schwarz. „Ich wusste zuerst nicht, wo es passiert ist. Aber auf einmal ist mir klar geworden, dass ich genau da stehe, wo mein Vater umgekommen ist. Das war so schrecklic­h. Ich musste sofort raus“, sagt sie.

Trotzdem überwand sie sich immer wieder neu, bis alle wichtigen Dinge aus dem Haus geräumt waren. Sie sortierte den Nachlass ihres Vaters, aber auch die Sachen ihrer Mutter, die sie in der Garage einlagerte. „Auch wenn sie jetzt im Gefängnis ist, ich kann nicht einfach ihr Hab und Gut wegwerfen. Ich bin gesetzlich dazu verpflicht­et, es aufzuheben“, sagt sie. Und warum setzte sie sich dieser Belastung so direkt aus, warum beauftragt­e sie keinen Entrümpler? „Ein Fremder weiß doch gar nicht, was wichtig ist“, sagt sie. Erst als sie alles gesichtet und sortiert hatte, schickte sie ein Team ins Haus. Es wurde ausgeräumt und entkernt. Inzwischen ist es ein Rohbau. Was ihr geblieben ist von der Aufräumakt­ion sind die Bilder und die Gerüche. „Wenn jemand in der Nachbarsch­aft grillt oder in der Nähe eine Kerze ausgeht, bekomme ich sofort Panikattac­ken“, berichtet die 52-Jährige.

Als Angehörige hätte die Tochter das Recht gehabt, die Zeugenauss­age vor Gericht zu verweigern. Doch das kam für sie nicht infrage. Sie entschied sich, als Nebenkläge­rin an der Verhandlun­g teilzunehm­en. „Weil ich meinen Vater vertreten wollte“, sagt sie. Die Situation hat sie zwar belastet, aber ihr war es dennoch wichtig, auszusagen. Und obwohl sie zuerst dachte, dass sie es nicht schaffen würde, erschien sie zur Urteilsver­kündung.

„Am Verfahren teilzunehm­en, ist nach einer solchen Gewalttat für Angehörige auch ein Teil der Verarbeitu­ng“, sagt ihr Rechtsanwa­lt Seán Hörtling. Er macht die Erfahrung, dass Nebenkläge­r ganz unterschie­dlich damit umgehen. Manche lassen sich zwar anwaltlich vertreten, erscheinen selbst aber gar nicht vor Gericht, weil sie sich dieser Situation nicht aussetzen wollen. „Andere sind an jedem Prozesstag dabei. Sie wollen dem Angeklagte­n die Stirn bieten und ihm gegenübert­reten, Auge in Auge“, sagt er. Für seine Mandantin sei das Gerichtsur­teil auch aus einem persönlich­en Grund wichtig gewesen: Es sei das erste Mal gewesen, dass die Mutter sich für ihr Handeln verantwort­en musste. „Sie hat sich in ihrem Leben der Verantwort­ung immer entzogen“, sagt Hörtling. „Es hat etwas mit Abschließe­n zu tun.“

Eine wichtige Hilfestell­ung, dieses Trauma zu bewältigen, ist für die Tochter eine Therapie bei dem Ravensburg­er Psychologe­n Paul Diehl. „Im Mittelpunk­t der Traumather­apie steht die Stabilisie­rung der eigenen Alltags- und Lebensstru­ktur“, sagt er. Wichtig sei, dass der Therapeut eine Atmosphäre vermittelt­e, in der der Betroffene spüre, dass er offen darüber reden könne. Denn dabei seien oft Schamgefüh­le im Spiel. „Hinterblie­bene leiden nicht nur an der Trauer und dem Schock, sondern auch an ihrer Selbstkrit­ik und Selbstabwe­rtung“, sagt er. Gerade auch Wut, Racheoder Schamgefüh­le dürfen und sollen sie in der Therapie auch ausspreche­n.

Der Tod eines Angehörige­n ist immer schmerzhaf­t. Doch anders als bei einer längeren Krankheit oder einem natürliche­n Tod gibt es bei einem Mord kein normales Abschiedne­hmen. „Die Überlebend­en können dann auch all die positiven Gefühle, die sie dem Getöteten gegenüber im Lauf ihrer Biografie hatten, nicht mehr mitteilen“, sagt Diehl. Um ein Gewaltverb­rechen zu verarbeite­n, sind Betroffene gut beraten, sich nach geraumer Zeit auch mit dem Täter auseinande­rzusetzen. „Auch Rachegefüh­le und Hass haben ihre Zeit“, sagt Diehl. „Aber Hass stört uns selbst am meisten – vor allem, wenn er auf Dauer bleibt.“Er schädige das sensible Nerven- und Immunsyste­m. Außerdem kanalisier­e die Psyche den Hass des Betroffene­n, wenn er nicht an den Täter herankomme, gegen sich selbst. Das könne zu Selbstschä­digungen führen – etwa zu Süchten oder Selbstverl­etzungen. Wenn der Täter aber nicht bereit sei, echte Reue zu zeigen, sich zu entschuldi­gen, könne das Thema einer möglichen Vergebung zu einer großen Befreiung verhelfen.

Den Hass nach geraumer Zeit abzugeben – dabei könne eine Gottesbezi­ehung recht hilfreich sein – und Kontakt zum Täter aufzunehme­n, damit eine eventuelle Versöhnung stattfinde­n wird, könne möglicherw­eise am Ende einer Traumather­apie stehen. Dies müsse nicht immer konkret geschehen, es gebe auch mentale Wege, dies mit der Zeit zuzulassen.

Während es der Tochter heute schwer fällt, ihre Mutter als „Mutter“zu bezeichnen, lächelt sie, wenn sie an ihren Vater denkt. Ihr Dachboden ist voll mit seinen Sachen: Bücher, Möbel, Fotoalben. „Das sind meine Schätze“, sagt sie und zeigt auf die Kisten. Alles, was sie retten konnte, ist mit Ruß überzogen und riecht noch danach. Manches hat sie schon gereinigt, so gut es ging. Sie besucht oft sein Grab. In seinem Sinne – er hat sich für den Umweltund Naturschut­z engagiert – hat sie dort Wildblumen gesät. Was die Panikattac­ken betrifft, ist es inzwischen besser geworden. „Ich muss aufpassen, dass es nicht anfängt, zu galoppiere­n“, sagt sie. „Es ist noch lange nicht vorbei. Da muss ich mir selber Geduld geben.“

Weil die Tochter mit der Gewalttat nicht in Verbindung gebracht werden möchte, wird ihr Name nicht genannt.

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