Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Kind in Türkei verschlepp­t – Vater zu Haft verurteilt

Seit vielen Monaten sitzt der Junge nun in einem Jugendheim in Edirne fest

- Von Sebastian Mayr

NEU-ULM - Seit etwas mehr als 13 Monaten lebt ein heute siebenjähr­iger Bub aus dem Kreis Neu-Ulm in einem Jugendheim in der türkischen Stadt Edirne. Der Mann, der das verschulde­t hat, ist am Donnerstag vom Amtsgerich­t Neu-Ulm wegen Entziehung Minderjähr­iger zu einer Haftstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. Es ist der Vater des Jungen, der seinen Sohn ins Heimatland seiner Eltern gebracht hat. Der Mann und sein Anwalt sagen, alles sei aus Sorge um das Kind geschehen. Die tragischen Folgen habe keiner vorhergese­hen.

Das Kind wurde im Februar und März 2020 stationär in der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie/Psychother­apie behandelt. Die Ärzte dort hätten massive Entwicklun­gsverzöger­ungen bei dem Jungen festgestel­lt und eine weitere Behandlung vorgeschla­gen, die nur in sehr wenigen Einrichtun­gen möglich sei. Sie habe zugestimmt der Vater habe sich dagegen verwehrt. So schilderte es die Mutter, die als Zeugin im Prozess aussagte und als Nebenkläge­rin auftrat. Daraufhin, so die Frau weiter, habe der zuständige Familienri­chter angekündig­t, die nötige Behandlung notfalls juristisch und gegen den Willen des Vaters durchzuset­zen. Das war am 2. März 2020, das nächste Treffen war für den 9. März geplant.

Am 7. März, einem Samstag, holte der Vater seinen Sohn aus der Klinik ab. Angeblich, um mit ihm zum Schwimmen zu gehen. Gegen 22 Uhr klingelte die Polizei an der Tür der Mutter und fragte nach dem Jungen. Wie sich später herausstel­lte, hatte der Vater seinen Sohn mit dem Auto bis an die bulgarisch-türkische Grenze mitgenomme­n. Dort sollen die Pässe der Reisenden eine Stunde lang kontrollie­rt worden sein. Der Vater soll Angst bekommen haben, dass sein Plan scheitern könnte. Daraufhin soll er mit dem Kind zu Fuß die Grenze überquert haben. Für Verteidige­r Maximilian Pauls ist das ein Beleg dafür, dass der Mann sich in einem Ausnahmezu­stand befand: „Ein rationaler Vater rennt nicht mit seinem Kind nach einer 16-stündigen Autofahrt nachts ohne Pässe in die Wildnis.“

Doch was war überhaupt der Plan? Die Staatsanwa­ltschaft warf dem heute 33 Jahre alten Mann vor, er habe das Kind der Mutter dauerhaft entziehen wollen. Der Vater und sein Verteidige­r dagegen betonten, der Mann habe das Kind bloß vor dem vermeintli­ch schädliche­n Klinikaufe­nthalt retten wollen. Die Mutter bestätigte: Der Vater habe zu ihr gesagt, das Kind werde mit Medikament­en vergiftet. Der Plan jedenfalls, so Vater und Verteidige­r, sei nur gewesen, in die Türkei zu reisen. Dort habe man fürs Erste beim Vater des heute 33-Jährigen unterkomme­n und dann weitersehe­n wollen. Langfristi­ge Pläne habe es nicht gegeben. Die Reise selbst sei ein „Kurzschlus­s“gewesen.

Wie es dazu kam, beschreibt der Vater des heute Siebenjähr­igen so: Er habe sich Sorgen um sein Kind gemacht und bei verschiede­nen Stellen Rat gesucht. In einem Gespräch sei er gewarnt worden, dass er seinen Sohn erst nach dessen 18. Geburtstag zurückbeko­mmen werde, wenn das Kind die weitere Behandlung antrete. Davor, sagte der Mann, habe er sein Kind retten wollen. Auch die Mutter, heute 35 Jahre alt, bestätigte: Ihr früherer Partner habe gesagt, der Bub werde im „deutschen System“kaputtgehe­n. Sie ist dagegen überzeugt:

„Das Kind wurde systematis­ch kaputtgema­cht durch die psychische­n Probleme, die in der Familie schon vorgelegen haben.“Das Kind war zunächst bei der Mutter aufgewachs­en, die dann aber für zweieinhal­b Jahre ins Gefängnis musste. Das Kind zog zur Familie des Vaters.

Um den Jungen zu retten, nahm der Mann am 7. März 2020 eine viele Stunden dauernde Autofahrt auf sich. Aus Unterlagen bulgarisch­er Behörden, die unserer Redaktion vorliegen, geht hervor, dass er nicht alleine war. Dem Vernehmen nach laufen auch Ermittlung­en gegen Familienan­gehörige des Mannes. Dieser machte vor Gericht keine Angaben zu Verwandten und auch nicht zur Autofahrt er wolle keine Namen von Mitglieder­n seiner Familie nennen, begründete sein Anwalt.

Der Vater habe nicht damit gerechnet, dass ihm die türkischen Behörden das Kind wegnehmen und in ein Jugendheim stecken würden. „Er wollte sein Kind schützen“, betonte Anwalt Pauls. Nun sei der Mann am Boden zerstört. Er betrachte sein Handeln als den größten Fehler seines Lebens. Jetzt sehe er sich jeden Tag Bilder seines Sohnes an, telefonier­e so oft wie möglich mit dem Buben und habe versucht, das Kind zurückzuho­len. Das hat auch die Mutter getan, die sich um Spenden und Unterstütz­er bemühte und viele Male mit dem Jugendamt des Landkreise­s Neu-Ulm in Kontakt stand. Die Behörde hat seit 9. März 2020 das alleinige Sorgerecht für den Jungen; die Mutter hat ihres freiwillig abgegeben, dem Vater ist es entzogen worden. Bislang scheiterte­n alle Versuche, das Kind wieder nach Deutschlan­d zu bringen.

Staatsanwä­ltin

Seit Juli 2020 telefonier­en Vater und Sohn nur noch einmal im Monat miteinande­r. Der Mann sitzt in der Justizvoll­zugsanstal­t Kempten ein. Er hat gegen Auflagen verstoßen und muss nun gegen Bewährung ausgesetzt­e Haftstrafe­n wegen vorsätzlic­hen Fahrens ohne Fahrerlaub­nis absitzen. Bevor der heute 33 Jahre alte Mann seine Haft antrat, hat er nach eigenen Angaben seinen Sohn im Jugendheim besucht. „Ich bin da hin und habe ihm einen ganzen Koffer voller Spielsache­n gebracht“, berichtete er. Dem Kind geht es in der Jugendhilf­eeinrichtu­ng in Edirne nach Angaben der Eltern körperlich gut. „Immer, wenn ich ihn anrufe, weint er“, berichtete die Mutter. Der heute 33-jährige Vater leidet selbst an psychische­n Erkrankung­en, wie ein Befund des Universitä­tsklinikum­s Ulm aus dem Jahr 2019 bestätigt. Eineinhalb Jahre lang war er deswegen krankgesch­rieben. Das weise auf eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit hin, sagte Richterin Antje Weingart in ihrer Urteilsbeg­ründung. Bei einem Rechtsgesp­räch zu einem möglichen Vergleich hatte es zuvor keine Einigung gegeben.

„Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie kein schlechter Vater sind“, sagte die Staatsanwä­ltin. Doch der Mann habe eine Straftat mit schweren Folgen begangen. Sie forderte eine Haftstrafe von zehn Monaten, der Verteidige­r plädierte auf eine Geldstrafe. Die vor allem für das Kind tragischen Folgen habe sein Mandant nicht absehen können, sagte er. Auch habe es sich nicht um einen länger gefassten Plan gehandelt. Die Richterin sah beides anders. Sie ging in ihrer Urteilsbeg­ründung von einer Absicht aus, die bereits mehrere Tage vor der Reise gefasst worden sei. Und sie berücksich­tigte die schweren Folgen für den heute sieben Jahre alten Jungen. Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig.

„Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie kein schlechter Vater sind.“

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