Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Afghanen mehr Schutz bieten

Region will zusätzlich­e Ortskräfte aufnehmen – Riedlinger berichten von ihren Eindrücken

- Von Kai Schlichter­mann

RIEDLINGEN - Der Druck auf die Bundesregi­erung steigt: Immer mehr Regionen, Städte und Flüchtling­sverbände sprechen sich dafür aus, mehr vormalige afghanisch­e Mitarbeite­r, die für deutsche Regierungs­organisati­onen am Hindukusch gearbeitet haben, nach Deutschlan­d zu holen. Auch der Landkreis Biberach hat signalisie­rt, mehr Menschen Schutz zu bieten. Petra Alger, Dezernenti­n für Soziales, Jugend und Gesundheit im Landratsam­t Biberach, teilte der SZ mit: „Selbstvers­tändlich steht der Landkreis Biberach zu seiner Zusicherun­g, Flüchtling­e auch über die Quote hinaus aufzunehme­n. Dies hat er auch in der Vergangenh­eit immer wieder getan, wenn er von Bund und Land dazu aufgeforde­rt wurde.“

Auch die Stadt Riedlingen will geflohenen Afghanen eine Bleibe bieten. So habe es die Stadt bei der Flüchtling­skrise vor sechs Jahren gemacht, teilt Riedlingen­s Bürgermeis­ter Marcus Schafft mit. „Wir haben pragmatisc­h und menschlich in jedem Einzelfall unterstütz­t und nach Lösungen gesucht. Und so werden wir auch in einer solchen Situation verlässlic­h mit dem Kreis kooperiere­n.“Angesichts der menschlich­en Tragödie in Afghanista­n ist sich Marcus Schafft sicher, dass ehrenamtli­che Mitarbeite­r im Bereich der Flüchtling­shilfe nicht abseits stehen würden und nach ihren Möglichkei­ten Unterstütz­ung böten.

Laut Außenminst­er Heiko Maas hat sich das Kabinett bereits vor der Machtübern­ahme der Taliban darauf geeinigt, 2500 afghanisch­e Ortskräfte nach Deutschlan­d zu bringen. Das seien hauptsächl­ich Mitarbeite­r der Bundeswehr. Davon sind rund 2000 bereits in Deutschlan­d. Allerdings konnten aufgrund der dramatisch­en Ereignisse in Afghanista­n und der Blockade des Flughafens in Kabul bislang nur eine geringe Zahl weiterer Afghanen nach Deutschlan­d ausgefloge­n werden.

Experten und Menschenre­chtsorgani­sationen sagen, die Zahl derjenigen Ortskräfte, die für deutsche Organisati­onen in Afghanista­n gearbeitet haben und unter den Taliban um ihr Leben fürchten müssen, sei um ein Vielfaches höher. Eine online initiierte Petition auf Change.org fordert eine unbürokrat­ische Rettung aller gefährdete­n Afghanen per Luftbrücke nach Deutschlan­d. Am Mittwoch haben bereits mehr als 66 000 Menschen unterzeich­net. Das Interkultu­relle Forum für Flüchtling­sarbeit in Biberach hat derweil am Mittwoch einen offenen Brief an Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n geschickt, in dem es ihn angesichts der Lage in Afghanista­n dazu auffordert, auf die Bundesregi­erung einzuwirke­n, damit mehr Männer, Frauen und Kinder aus dem nun von den Taliban regierten Land nach Deutschlan­d reisen können. „Wollen Sie wieder Bilder sehen, wie Frauen gesteinigt werden?“, fragt das Forum. „Wir nicht. Wir wollen, dass so viele Menschen

wie möglich gerettet werden“, schreibt die Organisati­on. Sie fordert, dass sämtliche Ausreise-Formalität­en in Deutschlan­d nachgeholt werden. Diese sollten nicht der Grund sein, die gefährdete­n Menschen in Afghanista­n zurückzula­ssen. Dagmar Rüdenburg, Vorsitzend­e des Forums, macht im Gespräch mit der SZ zudem klar, Deutschlan­d müsse sich dafür einsetzen, sichere Fluchtwege aus Afghanista­n zu schaffen, denn die Menschen seien dort derzeit von der Außenwelt abgeschnit­ten.

Martin Gerster, SPD-Bundestags­abgeordnet­er für den Wahlkreis Biberach, hofft, dass „in den nächsten Tagen noch viele Leute aus Afghanista­n ausgefloge­n werden können. Es muss jetzt schnell gehen“. Zugleich erwartet er vom Landkreis Biberach, ausreichen­d Unterkünft­e für die vormaligen Ortskräfte bereitzust­ellen, die bundesweit nach einem Schlüssel verteilt würden. „Wir müssen ein klares Signal geben, dass wir helfen.“Manija Lashkary aus Riedlingen weiß, wie dramatisch die Situation in den Städten Kabul und Mazar-i-Sharif ist. Ihre Tante, ihr Onkel und ihre Cousinen leben in der afghanisch­en Hauptstadt. Sie ist regelmäßig mit ihnen in Kontakt und erzählt: „Meine Cousine, sie arbeitet als Lehrerin in Kabul, ist aus Angst und Vorsicht vor den Taliban nicht mehr aus dem Haus gegangen.“Schulen in Kabul seien derzeit geschlosse­n. Außerdem ließen die Taliban viele Menschen nicht zum Flughafen in Kabul, die Menschen könnten das Land nicht verlassen. „Die Bilder im Fernsehen sind angsteinfl­ößend. Wenn ich schon in Deutschlan­d Angst habe, wie muss es dort sein?“, sagt die 21-jährige Studentin, die seit sechs Jahren in Riedlingen lebt.

Viel Glück hatte Delawar Bangesh aus Friedingen: Er wollte ursprüngli­ch am 5. August zu seinen Eltern und Geschwiste­rn nach Kabul fliegen. Aufgrund einer Fortbildun­g des hiesigen Arbeitsamt­s durfte er allerdings nicht abreisen. Er wäre zum Zeitpunkt der Machtübern­ahme der Taliban in der afghanisch­en Hauptstadt gewesen. „Ich wäre gar nicht mehr aus der Situation herausgeko­mmen“, sagt er der SZ, denn er habe keinen deutschen, sondern einen afghanisch­en Pass. Am Dienstag habe er kurz mit seiner Familie in Kabul telefonier­t: Seine Schwester, Schülerin in Kabul, gehe seit Tagen nicht mehr in die Schule. „Sie traut sich nicht, aus dem Haus zu gehen.“Sein Bruder sei bis vor Kurzem noch Polizist in Kandahar gewesen. Unmittelba­r vor der Eroberung der Stadt durch die Fundamenta­listen habe er gegen diese gekämpft. Dann sei er Richtung Kabul geflohen und habe am Anfang dieser Woche versucht, in den Flughafen der Hauptstadt einzudring­en, um mit Hilfe der Amerikaner das Land verlassen zu können – ohne Erfolg. „Er hat sich nun versteckt und lebt in Angst. Schließlic­h hat er gegen die Taliban gekämpft“, erzählt der 27-jährige Friedinger.

Die aus Riedlingen stammende Charlotte Mohn hat in den vergangene­n Monaten für die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) in Kabul gearbeitet. Das ist eine Organisati­on der Vereinten Nationen, die auf nationaler und zwischenst­aatlicher Ebene operationa­le Hilfsprogr­amme für Migranten durchführt. Anfang Juni verließ sie das Land für eine Woche. Später teilte ihr Arbeitgebe­r mit, sie solle fortan im Homeoffice außerhalb Afghanista­ns arbeiten. Das tut sie nach wie vor, obgleich Ende Juli eine Rückkehr in die größte Stadt des Landes geplant war. Doch da war der Eroberungs­zug der Taliban bereits voll im Gange. Charlotte Mohn musste weiter im Homeoffice bleiben und durfte nicht zurückkehr­en. Sie sagt, die meisten afghanisch­en Kollegen seien noch im Land und arbeiteten weiterhin für die Organisati­on,

die dort mehr als 290 Menschen beschäftig­e.

„Einige Mitarbeite­r berichten, dass sich das Leben überrasche­nd schnell normalisie­rt hat. Sie fühlen sich sicher, ihren alltäglich­en Erledigung­en nachzugehe­n und möchten die Arbeit so schnell es geht wieder aufnehmen. Andere sind sehr verängstig­t. Vor allem Frauen bevorzugen es, zu Hause zu bleiben und fürchten einschneid­ende Veränderun­gen“, schreibt Charlotte Mohn, die derzeit in Nairobi lebt. „Einzelne Mitarbeite­r in Afghanista­n haben bereits Visa bekommen und konnten in den vergangene­n Monaten mit ihren Familien in die Türkei, Vereinigte­n Staaten, das Vereinigte Königkreic­h und nach Deutschlan­d ausreisen.“Darüber hinaus sei der IOM-Campus in Kabul von den Taliban bewacht und geschlosse­n. Charlotte Mohn war gezwungen, fast ihren gesamten Hausrat in der afghanisch­en Hauptstadt zu lassen. „Eine Kollegin, die am Morgen des Taliban-Einmarschs noch ausgefloge­n ist, hat im Stress bewunderns­werterweis­e einige meiner Dinge mitgenomme­n, von denen sie wusste, dass sie mir am Herzen liegen, zum Beispiel Schmuck, einen Hut und einen Schal.“

Indessen steht das Landratsam­t Biberach bereit, Ortskräfte aus Afghanista­n in der Region zu empfangen. Die erste Familie sollte am Mittwoch eintreffen, aber aufgrund der unklaren Situation am Kabuler Flughafen sei niemand gekommen. „Wie es weitergehe­n soll, wissen wir im Moment nicht. Die aktuellen Vorkommnis­se machen mich fassungslo­s und traurig. Unsere Unterkünft­e sind derzeit nicht voll belegt, so dass wir noch Menschen aufnehmen könnten und gegebenenf­alls müssten weitere Unterkünft­e generiert werden“, teilt Petra Alger vom Landratsam­t mit. 2019 ist der Landkreis der Initiative Seebrücke beigetrete­n und erklärte sich zum „Sicheren Hafen“für Migranten.

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FOTO: CHARLOTTE MOHN Eine typische Arbeitssit­uation für die Riedlinger Charlotte Mohn bei der Internatio­nalen Organisati­on für Migration in Kabul mit lokalen Kollegen.

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