Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Gutachter: Angeklagter ist schuldfähig
40-Jähriger kann für Buchauer Messerattacke zur Verantwortung gezogen werden
BAD BUCHAU/RAVENSBURG - Der Angeklagte im Bad Buchauer Messerstecher-Prozess war wohl bei seiner Tat weitgehend Herr seiner Sinne und kann damit auch strafrechtlich dafür verantwortlich gemacht werden: Zu dieser Einschätzung gelangt der psychiatrische Sachverständige Dr. Hermann Assfalg in seinem Gutachten über den 40-jährigen Buchauer. Der Mann muss sich derzeit wegen versuchten Totschlags vor dem Landgericht Ravensburg verantworten.
Die Tat hat sich vor gut einem Jahr, am 22. September 2020, ereignet. Der Angeklagte soll gegen 17.40 Uhr bei einem Streit vor seiner Wohnung einen 20-Jährigen mit einem Messerschnitt am Hinterkopf schwer verletzt haben. Das Messer, so die Anklageschrift, habe er vor der Attacke hinter seinem Rücken verborgen. Beide Männer sollen schon gut eine Stunde zuvor an einem Supermarkt in der Stadtmitte aneinandergeraten sein. Hierbei habe der Angeklagte seinem Kontrahenten mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Daraufhin alarmierten Zeugen gegen 16.18 Uhr die Polizei, die kurz darauf eintraf und den inzwischen geflüchteten Mann mit zwei Streifen an seiner Wohnung aufsuchte. Dort habe er insbesondere einen der vier Beamten beleidigt und zu bespucken versucht, bis ihm durch den Einsatz von Pfefferspray Einhalt geboten wurde.
Eben jene Streifenpolizisten aus Riedlingen und Bad Schussenried kamen nun am dritten Verhandlungstag vor dem Landgericht Ravensburg zu Wort. In ihren Zeugenaussagen beschrieben sie den Angeklagten schon zu Beginn ihres Zusammentreffens als äußerst aggressiv. Seine Schimpftiraden und Beleidigungen hätten sich allerdings vor allem gegen einen Beamten gerichtet, der schon in der Vergangenheit immer wieder mit dem alkoholund drogenabhängigen Mann und seinem Umfeld dienstlich zu tun gehabt hatte. Seine Wohnung, so der Polizeibeamte, sei „eine sehr bekannte Adresse in Bad Buchau, wo wir zu der Zeit regelmäßig waren“. Der Angeklagte sei, so seine Zeugenaussage, bei dem Zusammentreffen „so wie man ihn kennt – besoffen – gewesen“. Allerdings habe man sich nach dem Pfefferspray-Einsatz durchaus mit ihm verständigen können: „So betrunken war er nicht.“
Ob der Mann Anzeichen eines Rauschs erkennen ließ, danach hatte sich auch der psychiatrische Sachverständige Hermann Assfalg immer wieder bei den verschiedenen Zeugen erkundigt. Seine bisherigen Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung flossen neben der Auswertung verschiedener Unterlagen und seiner persönlichen Befragung des Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt Ravensburg in das Gutachten ein. Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung schloss er dabei aus. Vielmehr seien die Vorstrafen des Angeklagten „in engem Zusammenhang mit dem Suchtmittelmissbrauch“zu betrachten: „Er gehört für mich zu den schwerstabhängigen Personen.“
Der Mann hatte früh angefangen, Drogen zu konsumieren. Eine Ursache vermutete der Sachverständige in dessen Migrationsgeschichte: Der Angeklagte zog als Zehnjähriger mit seiner Familie von Kasachstan nach Deutschland und erlebte sich in dem fremden Land als ausgegrenzt. Er sehe häufig, so Assfalg, dass eine Migration im Pubertätsalter für Betroffene sehr belastend sei: „Das ist eine sehr vulnerable Zeit.“Die Geschwister des Angeklagten seien bei der Übersiedlung schon älter gewesen – und lebten alle in bürgerlichen Verhältnissen.
Halt scheint der Angeklagte in Drogen gefunden zu haben, zunächst Haschisch, später Partydrogen und schließlich, mit 18, 19 Jahren, dann Heroin. „Das ist ein Konsum, der relativ rasch ein ganz, ganz hohes Abhängigkeitspotenzial entwickelt“, betonte Assfalg. Doch auch Alkohol entwickelte sich zunehmend zum Problem, sodass der Sachverständige „zwei schwere Abhängigkeitssyndrome in stärkster Ausprägung“diagnostizierte. Am Morgen des Tattags, so berichtete die ehemalige Freundin im Zeugenstand, habe das Paar etwa eine Flasche Wodka getrunken. Dazu passt die nach der Verhaftung vorgenommene Blutuntersuchung, die einen Wert von 1,49 Promille ergab.
Gleichwohl geht Assfalg davon aus, dass der Angeklagte weitgehend wusste, was er tat. Er habe zwar „leichte Ausfallerscheinungen“aufgezeigt, habe geschwankt oder eine verwaschene Aussprache gehabt. Relevante kognitive Einschränkungen könne er aber aus den Zeugenaussagen nicht ableiten: Beim Zusammentreffen
mit den Polizisten etwa habe sich seine Aggression gezielt gegen einen der Beamten gerichtet, er habe die Situation genau erfasst. Und vor der Attacke habe er das Messer, das berichten die Zeugen übereinstimmend, hinter dem Rücken verborgen – laut Assfalg eine „Vorbereitungshandlung, die gezielt auf diese Situation ausgeführt“wurde. Auch die Schilderungen des Kampfgeschehens ließen daraus schließen, dass seine Steuerungsfähigkeit trotz Alkohol und Drogen nicht aufgehoben gewesen sei. Ein Umstand, den der Sachverständige mit der starken Gewöhnung an die Suchtmittel erklärte: 1,5 Promille seien für einen Schwerstabhängigen „erst der Beginn der Betriebstemperatur“.
„Insofern ist kein Hinweis auf eine Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortung abzuleiten“, so die Schlussfolgerung des Sachverständigen. Eine Schuldminderung oder gar Schuldunfähigkeit müsse er verneinen. Noch steht das Urteil aber aus. Die Verhandlung unter dem Vorsitz von Richter Veiko Böhm wird am 8. September fortgesetzt.
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