Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Sieger Scholz und Verlierer Laschet wollen regieren
SPD und Union bekräftigen Führungsanspruch – Grüne trotz Gewinnen enttäuscht – FDP hält sich alles offen
BERLIN - Schon kurz nach Schließung der Wahllokale war klar: Es ist völlig offen, wer die künftige Regierung bilden und wer Nachfolger der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird. Die SPD mit rund 26 Prozent und die Union mit zwei Prozent weniger lagen eng beieinander. Sieger des Abends war jedoch eindeutig Olaf Scholz. Er brach den jahrelangen Trend der SPD nach unten und gewann im Vergleich zu 2017 gut fünf Prozent hinzu. Unionskandidat Armin Laschet fuhr das historisch schwächste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik ein: 2017 war die Union noch auf 32,9 Prozent gekommen. Die Grünen verpassten ihr selbst gesetztes Ziel, stärkste Kraft im Land zu werden und kamen mit deutlichen Gewinnen auf knapp 15 Prozent. Die AfD verlor Stimmen und wird nicht mehr Oppositionsführerin sein.
Regieren wollen nun sowohl Sieger Scholz als auch Verlierer Laschet. Beide bekräftigten am Abend ihren Führungsanspruch. Die Menschen wollten, dass „der nächste Bundeskanzler dieses Landes Olaf Scholz heißt“, sagte Scholz. Es gilt als wahrscheinlich, dass der aktuelle Finanzminister als Kanzler ein AmpelBündnis mit Grünen und FDP anstreben wird.
CDU-Chef Laschet kündigte ungeachtet des Rekordtiefs an, er wolle zusammen mit der FDP, die leichte Gewinne verzeichnete, und den Grünen das Land regieren und nannte das Jamaika-Bündnis eine „Zukunftskoalition“. Deutschland brauche „eine Koalition für mehr Nachhaltigkeit in jeder Hinsicht – beim Klimaschutz und den Finanzen“. Darin sei er sich übrigens mit CSU-Chef Markus Söder einig.
Söder selbst ging so weit, das Ergebnis als Misstrauensvotum gegen Scholz zu werten und erkannte einen Wählerwunsch für „ein bürgerliches Bündnis“. Eine mögliche Koalition aus SPD, Linken und Grünen habe „eine Klatsche“bekommen. „Die Deutschen möchten nicht Rot-RotGrün.“Diese Idee habe der SPDKandidat aber favorisiert. Nach allen Hochrechnungen gibt es keine Mehrheit für ein Linksbündnis. Mehrfach betonte Söder am Sonntagabend: „Wir wollen regieren.“
Während das Ergebnis bei der SPD bejubelt wurde, herrschte in der
CDU-Parteizentrale entsetztes Schweigen, als die ersten Zahlen auf den Bildschirmen auftauchten. „Mit dem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein“, räumte Laschet ein. Es gehe nun darum, „Gegensätze zu überwinden und Deutschland zusammenzuhalten“. Ein interner Aufstand in der CDU gegen den Parteichef, mit dem manche Experten schon am Sonntagabend gerechnet hatten, galt damit als aufgeschoben, aber nicht als abgewendet.
Bis zum Redaktionsschluss war unklar, welche Partei zum Schluss die meisten Sitze erzielen konnte und ob der Linken überhaupt der Einzug in den Bundestag glücken würde. Neben den Sozialdemokraten waren die Grünen beim Blick auf die Zahlen die Gewinner des Abends. Die Partei von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock konnte deutlich mehr Stimmen erzielen als 2017 und schnitt mit etwa 15 Prozent so gut wie nie zuvor, seit sie 1980 erstmals bei den Bundestagswahlen angetreten war. Doch auch Baerbock sagte: „Wir können nicht nur jubeln.“Schließlich sei man angetreten, um das Kanzleramt zu erobern.
Rein rechnerisch sind neben der unwahrscheinlichen Neuauflage der Großen Koalition nun das JamaikaBündnis oder eine Ampel-Koalition, in der die Sozialdemokraten mit Grünen und Liberalen zusammenarbeiten würden, möglich. FDP-Chef
Christian Lindner hielt sich alle Optionen offen. Er schlug vor, dass Grüne und FDP „zuerst miteinander sprechen und schauen, wo es gemeinsamen Grund geben könnte“.
Die Forschungsgruppe Wahlen führte das Debakel der Union in einer ersten Analyse am Wahlabend auf einen „historisch schwachen Kandidaten“, Imageverluste als Partei und erhebliche Defizite bei Sachkompetenzen zurück. Zugleich habe die SPD von ihrem Parteiansehen, einem gewachsenen Politikvertrauen und dem einzigen Kandidaten profitiert, dem die Wähler Kanzlerqualitäten zuschreiben würden. 67 Prozent der Deutschen hielten demnach Scholz als Regierungschef für geeignet. Bei Laschet fänden dies dagegen nur 29 Prozent, bei Grünen-Chefin Annalena Baerbock 23 Prozent.
In einer Forsa-Studie in Kooperation mit RTL/ntv gaben 53 Prozent Laschet die Schuld für die historische Wahlschlappe von CDU und CSU, weil er der falsche Kanzlerkandidat gewesen sei. 62 Prozent meinten, der amtierende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen solle die Verantwortung übernehmen und als CDU-Vorsitzender zurücktreten.
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