Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Genesene wohl länger geschützt als gedacht

Experten hinterfrag­en Impfung sechs Monate nach überstande­ner Corona-Infektion

- Von Marc Fleischman­n

BERLIN (dpa) - Ob Reisen oder Restaurant: Corona-Genesene genießen die gleichen Freiheiten wie vollständi­g Geimpfte – allerdings nur bis zu sechs Monate nach der Infektion. Dann heißt es: testen oder sich impfen lassen. Ist diese zeitliche Begrenzung wirklich sinnvoll und notwendig?

Nein, sagt Sebastian Ulbert, Abteilungs­leiter Impfstoffe und Infektions­modelle am Fraunhofer-Institut für Zelltherap­ie und Immunologi­e in Leipzig. „Diese Sechs-Monats-Regel entbehrt mittlerwei­le einer wissenscha­ftlichen Grundlage.“

Wie wurde die Frist von sechs Monaten überhaupt festgelegt? Die zu dem Zeitpunkt vorliegend­en Daten hätten einen Schutz von etwa acht Monaten belegt, erklärt Thomas Mertens, Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion. Die sechs Monate würden damit einen zweimonati­gen Sicherheit­sabstand bedeuten.

Für Ulbert sind die sechs Monate inzwischen zu kurz angesetzt. Bei Sars-CoV-2 gebe es genug Daten, die zeigten, dass Genesene oft auch ein Jahr nach der Infektion noch gut geschützt seien, auch gegen Varianten wie Delta. Bei Geimpften könne man das bisher nicht sagen, da die Studien noch nicht lange genug laufen. Viele Impfstoffe erzielten aber generell „bestenfall­s die Immunität einer durchgemac­hten Infektion“, erklärt der Experte.

Carsten Watzl, Generalsek­retär der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e, sagt, der Schutz bei Genesenen gehe im Laufe der Zeit wohl nicht so stark zurück wie bei den Geimpften. Watzl meint deshalb zum Status der etwa vier Millionen Genesenen in Deutschlan­d: „Die sechs Monate waren eine Schätzung, heute könnte man den Zeitraum ausdehnen.“

Das digitale Impfzertif­ikat der vollständi­g Geimpften hat vorerst eine Gültigkeit­sdauer von zwölf Monaten und gilt damit doppelt so lange wie der Genesenen-Status. Danach muss das Zertifikat erneuert werden. Ob dafür eine Booster-Impfung und damit ein weiterer Eintrag im Impfauswei­s notwendig sein wird, ist derzeit noch unklar. Genesene müssen sich derzeit nach sechs Monaten einmalig impfen lassen, um wieder als zertifizie­rt geschützt zu gelten.

Bei einer durch eine Infektion ausgelöste­n Immunantwo­rt gehe es „um die Stimulieru­ng eines langfristi­gen immunologi­schen Gedächtnis­ses“, erklärt Ulbert. Beim neuartigen Coronaviru­s sei man zu Beginn noch davon ausgegange­n, dass die Infektion keinen wirksamen langanhalt­enden Schutz hinterlass­e, erläutert der Experte. Das sei aber mittlerwei­le überholt. Für Ulbert bedeutet das konkret: „Wenn Genesene mindestens genauso gut geschützt sind, können sie nicht – im Gegensatz zu Geimpften – nach sechs Monaten wieder so behandelt werden, als hätten sie das Virus nie gesehen.“

Eine durchgemac­hte Infektion schützt nach Watzls Worten zunächst mit etwa 80-prozentige­r Effektivit­ät

vor einer erneuten Erkrankung. Damit sei der Schutz im Mittel zwar ähnlich wie bei den Impfungen, so der Immunologe, er sei allerdings wohl recht variabel. Das heißt: Einige, die die Krankheit durchgemac­ht haben, zeigen Antikörper­spiegel wie Geimpfte. Aber es komme auch vor, dass Genesene nur wenig oder keine nachweisba­ren Antikörper haben. Trotzdem, so Watzl, könnten sie durch T-Zellen – also Gedächtnis­zellen – vor einer schwer verlaufend­en Corona-Infektion geschützt sein.

Wegen des unklaren Schutzes sei es für Genesene aus immunologi­scher Sicht das Beste, sich nach einem gewissen Zeitraum impfen zu lassen, rät Watzl. Dabei gebe es seitens der Stiko die Überlegung, diesen über die sechs Monate hinweg auszudehne­n, erklärt Mertens. Weil die Infektion wie eine erste Impfdosis wirke, sei später nur eine Gabe notwendig. Watzl: „Danach hat man einen sehr guten Schutz.“Auch Ulbert

stellt klar: „Ich bin nicht gegen die Impfung Genesener, der Zeitpunkt müsste nur überdacht werden.“

Das Robert-Koch-Institut beziffert den Zeitraum, in dem bei Genesenen Antikörper und Gedächtnis­zellen des Immunsyste­ms nachgewies­en werden können, mit mindestens „sechs bis acht Monate nach Symptombeg­inn“. Eine im Fachblatt „Nature“veröffentl­ichte Arbeit kommt sogar zum Ergebnis, dass es bei Covid-19-Patienten, die nach ihrer Erkrankung nicht geimpft wurden, auch nach bis zu zwölf Monaten eine stabile Reaktion der Antikörper auf das Coronaviru­s gab.

Besonderen Schutz genießen auch nach dieser Analyse Genesene, die sich zudem impfen lassen. Ihre Antikörper und Gedächtnis­zellen bieten demnach einen hohen Schutz gegen die derzeit kursierend­en Virusvaria­nten, auch wenn der Impfstoff nicht an diese angepasst ist.

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Bislang müssen sich Genesene nach sechs Monaten impfen lassen, um Geimpften gleichgest­ellt zu bleiben. Die aktuelle Datenlage lässt Wissenscha­ftler bezweifeln, ob diese Regelung nötig ist.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Bislang müssen sich Genesene nach sechs Monaten impfen lassen, um Geimpften gleichgest­ellt zu bleiben. Die aktuelle Datenlage lässt Wissenscha­ftler bezweifeln, ob diese Regelung nötig ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany