Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Brexit gefährdet Weihnachts­fest

Aufgrund von sich verschärfe­nden Lieferengp­ässen bietet London Tausenden Lastwagen-Fahrern Arbeitsvis­a an

- Von Benedikt von Imhoff

LONDON (dpa) - Nach dramatisch­en Bildern von Warteschla­ngen an Tankstelle­n hat die britische Regierung ihre starre Haltung über den Haufen geworfen und hofft nun auf Rettung durch ausländisc­he Fachkräfte. Wie das Verkehrsmi­nisterium am Sonntag in London mitteilte, werden bis zu 5000 Arbeitsvis­a für Lastwagenf­ahrer bereitgest­ellt, zudem sollen 5500 Fachkräfte für die Geflügelve­rarbeitung angelockt werden. Das Ziel: Premiermin­ister Boris Johnson will doch noch das Weihnachts­fest retten. Er fürchtet, dass die Lieferengp­ässe auch noch bis ins Jahr 2022 andauern und es viele Geschenke nicht bis in die Wohnzimmer der Briten schaffen könnten.

„Nach sehr schwierige­n 18 Monaten weiß ich, wie wichtig dieses Weihnachts­fest für uns alle ist“, sagte Verkehrsmi­nister Grant Shapps. Noch am Freitag hatte er abgelehnt, ausländisc­he Spezialist­en ins Land zu holen.

Die Lage ist dramatisch. Weil an allen Ecken Lastwagenf­ahrer fehlen – der Branchenve­rband Road Haulage Associatio­n (RHA) nennt als Zahl bis zu 100 000 – blieben in Supermärkt­en Lebensmitt­elregale leer, auch viele andere Waren gab es vorübergeh­end nicht, von Matratzen bis zu bestimmten Biersorten. Aber erst als bekannt wurde, dass Energiekon­zerne Dutzende Tankstelle­n nicht mehr beliefern konnten, griff die Regierung ein. Ein Grund für den eklatanten Engpass sind die schärferen Einwanderu­ngsregeln seit dem Brexit, EU-Bürger benötigen nun teure Arbeitsvis­a.

Vertreter der Logistikbr­anche sowie der Nahrungsmi­ttelindust­rie begrüßten die Regierungs­pläne. Zugleich machten sie deutlich, dass die insgesamt 10 500 Fachkräfte nicht ausreichte­n. „Das ist, als ob man ein Lagerfeuer mit einem Fingerhut Wasser löschen will“, sagte die Präsidenti­n der Britischen Handelskam­mer, Ruby McGregor-Smith. Der Industriev­erband CBI kritisiert­e die

Haltung der Regierung, vor allem auf Ausbildung zu setzen. „Man kann Gepäckabfe­rtiger nicht über Nacht in Metzger verwandeln oder Ladenbesit­zer in Köche“, sagte CBI-Chef Tony Danker der BBC.

Hingegen beharrte das Verkehrsmi­nisterium darauf, dass der Import von Arbeitskrä­ften keine nachhaltig­e Lösung des Problems darstelle. Minister Shapps weigerte sich, den Brexit als Grund für die Nöte anzuerkenn­en, und warf vielmehr dem RHA vor, mit durchgesto­chenen Informatio­nen aus nicht öffentlich­en Sitzungen Panik geschürt zu haben. Der Verband wies dies entrüstet zurück.

Helfen sollen nun ein Maßnahmenp­aket und das Militär. Vorgesehen ist etwa, dass Fahrlehrer der Armee

helfen, den enormen Rückstau an Fahrprüfun­gen aufzuarbei­ten, der auch durch die Corona-Pandemie entstanden ist. Shapps schloss nicht aus, dass Soldaten sogar als Fahrer einspringe­n könnten. Zudem sollen ehemalige Brummi-Fahrer von einer Rückkehr in den Beruf überzeugt werden, die Regierung verspricht höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen. Insgesamt sollen 50 000 Fahrprüfun­gen pro Jahr zusätzlich möglich werden.

Zugleich versuchte die Regierung, die Bevölkerun­g zu beruhigen. Es sei genügend Kraftstoff vorhanden, sagte Minister Shapps. Die Leute sollten sich vernünftig verhalten. Seine Kabinettsk­ollegin Nadine Dorries twitterte: „Es gibt keinen Kraftstoff­mangel.

Ich wiederhole: ES GIBT KEINEN KRAFTSTOFF­MANGEL!!“

Ein Verspreche­n des Brexits war, die Freizügigk­eit zu beenden. Nun sollen die Ausländer doch helfen. Der RHA zweifelt aber daran, ob die erhofften Fachkräfte überhaupt kommen. Die Zeit sei knapp, und es sei fraglich, ob Fahrer, die auch in der EU händeringe­nd benötigt werden, sich auf ein zeitlich begrenztes Abenteuer einließen, sagte RHAManager Rod McKenzie der Nachrichte­nagentur PA.

Andere Branchen gehen ebenfalls davon aus, dass das Weihnachts­geschäft auf der Kippe steht. Das liegt auch an einer Energiekri­se mit stark gestiegene­n Gaspreisen, die sich etwa auf die Lebensmitt­elprodukti­on auswirken. Zudem warnten Weihnachts­baumproduz­enten gegenüber dem Sender Sky News vor einem drastische­n Preisansti­eg. Es sei fraglich, ob jeder, der wolle, einen echten Weihnachts­baum aufstellen könne.

Noch gefährdete­r ist der traditione­lle Festschmau­s. Bereits vor Weihnachte­n werde es keine Truthähne mehr geben, sagte die Chefin des Verbands Traditiona­l Farm Fresh Turkey Associatio­n, Kate Martin. Im Gegensatz zu Minister Shapps ist sie überzeugt, dass der Brexit Schuld an den Lieferprob­lemen ist. Zwar nutzten kleinere Produzente­n lokale Arbeitskrä­fte. Bei den großen Anbietern sei aber „zu 100 Prozent“der Brexit die Ursache für die Knappheit an Arbeitskrä­ften.

 ?? FOTO: GARETH FULLER/DPA ?? Autofahrer in einer Schlange vor einer Tankstelle im britischen Ashford: Die britische Regierung hat Maßnahmen angekündig­t, um den Mangel an Lastwagenf­ahrern zu beenden. Aufgrund der fehlenden Fahrer mussten unter anderem Tankstelle­n schließen.
FOTO: GARETH FULLER/DPA Autofahrer in einer Schlange vor einer Tankstelle im britischen Ashford: Die britische Regierung hat Maßnahmen angekündig­t, um den Mangel an Lastwagenf­ahrern zu beenden. Aufgrund der fehlenden Fahrer mussten unter anderem Tankstelle­n schließen.

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