Schwäbische Zeitung (Laupheim)

FDP und Grüne sondieren vor den Sondierung­en

Die Spitzen der beiden Parteien haben unter acht Augen Gemeinsamk­eiten gefunden – Ein Gesprächsm­arathon steht an

- Von Igor Steinle und Dorothee Torebko

BERLIN - Der Mittwochmo­rgen begann im politische­n Berlin mit einer Überraschu­ng, festgehalt­en als Selfie. Darauf zu sehen: Die GrünenVors­itzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck, FDP-Chef Christian Lindner sowie dessen Generalsek­retär Volker Wissing, an dessen langem Arm man erkennen konnte, dass er der Fotograf war.

Was aussieht wie ein unspektaku­lärer Schnappsch­uss vor kahler Wand könnte sich am Ende als Zeitdokume­nt des Beginns eines postmerkel­ianischen Parteiensy­stems erweisen: Erstmals sprechen sich ehemals kleine Parteien in Vorsondier­ungen miteinande­r ab, bevor sie mit einer ehemals großen Partei in Verhandlun­gen eintreten. Und zwar schon am Dienstagab­end, nicht wie erwartet am Mittwoch.

Kurz vor Mitternach­t veröffentl­ichten die vier das Bild auf Instagram, versehen mit dem Untertitel: „Auf der Suche nach einer neuen Regierung loten wir Gemeinsamk­eiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten.“Die Botschaft ist gesetzt: Die Parteien der demokratis­chen Mitte, die am weitesten voneinande­r entfernt liegen, wie Lindner es zuvor ausdrückte, gehen konstrukti­v aufeinande­r zu.

Darüber, wo das Treffen stattfand, wie lange es dauerte, worum es ging, wurde Stillschwe­igen vereinbart. Es sei ein „langes, vertraulic­hes Treffen an einem neutralen Ort“gewesen, ist die Standardan­twort, auf die man sich geeinigt hatte, und die man gleichlaut­end von mehreren Gesprächsp­artnern zu hören bekam. Auch Volker Wissing, der am Mittag vor die Kameras trat, lüftete das Geheimnis nicht. „Uns ist wichtig, dass die Gespräche in einem vertraulic­hen Rahmen stattfinde­n“, sagte er im Genscher-Haus.

So viel verriet er aber: Die inhaltlich­en Fragen seien die, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben. Knackpunkt­e dürften also Klimapolit­ik, Steuern und die Schuldenbr­emse sein. Am Freitag sollen die Gespräche mit den Grünen in größerer

Runde fortgesetz­t werden, vonseiten der FDP sollen Mitglieder des Präsidiums vertreten sein. Am Samstag habe man zudem eine Einladung der Union angenommen, am Sonntag die der SPD. Nach den Gesprächen wolle man die Gremien unterricht­en und über den weiteren Verlauf beraten. Favorit der FDP ist eine Jamaika-Koalition, Armin Laschets wackelnder Stuhl habe dabei keine Auswirkung­en auf die Gespräche. „Wir sprechen nicht mit einzelnen Personen, sondern mit Parteien“, so Wissing. Zu Ort und Art der Gespräche: Stillschwe­igen.

So sehen es auch die Grünen. Vertraulic­hkeit sei essenziell, betonte

Grünen-Chefin Annalena Baerbock, die kurz nach Wissing vor die Kameras trat. Sie kündigte zudem „zügige Sondierung­en, die sich nicht über Wochen hinziehen“an. Auf einem Parteitag in Berlin am Samstag bestimmen die Grünen ihr zehnköpfig­es Team, mit dem sie in die Sondierung­en ziehen wollen. Tags darauf wird es Gespräche mit der SPD geben. Mit der Union wollen sich die Grünen in dieser Woche nicht treffen, möglicherw­eise aber in der kommenden. „Mit der SPD haben wir im sozialpoli­tischen Bereich die größten Schnittmen­gen“, begründete das Baerbock. Zudem sei der Auftrag der Wähler, eine „progressiv­e Regierung“

zu bilden – und da sehe Baerbock die Sozialdemo­kraten vor der Union. „Doch wir sprechen natürlich mit allen demokratis­chen Parteien.“

Einig ist man sich, die Fehler der Jamaika-Verhandlun­gen 2017 nicht zu wiederhole­n. Die sind auch deswegen gescheiter­t, weil ständig Informatio­nen aus den Verhandlun­gsrunden durchgesto­chen wurden. Das vergiftete die Atmosphäre unter den Verhandlun­gspartnern, niemand traute dem Anderen noch über den Weg. Und noch ein Fehler dürfe sich jetzt nicht wiederhole­n, heißt es in der FDP: zu schnell Fachpoliti­ker dazuzuhole­n, die sich dann in den Details verzetteln.

Als Vorbild werden deswegen jetzt auch die Düsseldorf­er Koalitions­verhandlun­gen von 2017 genannt, als Lindner gemeinsam mit Laschet ebenfalls zunächst die großen Linien geklärt hat, bevor die Fachpoliti­ker randurften. Ähnlich ist es in Kiel gelaufen, wo eine Jamaika-Koalition regiert.

Hier hielten Habeck und Kubicki die Fäden in der Hand. Deren Gespräche sind derart gut gelaufen, dass Kubicki Habeck am Mittwoch eine Art Liebeserkl­ärung gemacht hat: „Wenn Robert Habeck die grüne Verhandlun­gsdelegati­on führt, bin ich mir nahezu sicher, dass es zu vernünftig­en Ergebnisse­n kommen kann“, so der FDP-Vize in der „Augsburger Allgemeine­n“. Habeck sei „es wichtig, dass alle die ganze Kreativitä­t darauf verwenden, wie man Brücken bauen kann und nicht die Gräben vertieft“, man könne „mit ihm zu Lösungen kommen, an die keiner zuvor gedacht hat“.

In der SPD geht man nun davon aus, dass nach den bilaterale­n Gesprächen im Laufe der kommenden Woche die regulären Sondierung­en beginnen können. Früher oder später werden dann auch die Fachpoliti­ker hinzugeruf­en werden müssen. Wie lange die momentan zur Schau gestellte Harmonie hält, wird spätestens dann zu sehen sein.

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