Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Schicksal Deutschlan­d

Das Anwerbeabk­ommen mit der Bundesrepu­blik prägt die Türkei bis heute

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Der Sänger Tarkan Tevetoglu, der Regierungs­berater Fahrettin Altun und der Fußballman­ager Halit Altintop sind sehr verschiede­ne Leute. Der erste wird von Millionen Türken als Pop-Superstar angehimmel­t, der zweite ist einer der einflussre­ichsten Männer im engsten Kreis um Präsident Recep Tayyip Erdogan, der dritte ist Teamchef der türkischen Nationalma­nnschaft. Doch bei allen Unterschie­den verbindet die drei Männer eines: ihre Geburt in Deutschlan­d. Wie die Biographie­n von Millionen anderer Türken sind die Lebensläuf­e des Popstars, des Präsidente­nsprechers und des Fußballers untrennbar mit der türkischen Massenmigr­ation in die Bundesrepu­blik verbunden, die vor 60 Jahren mit dem Anwerbeabk­ommen von 1961 begann.

Ob Handwerker, Taxifahrer oder Wissenscha­ftler: Wenn Türken mit deutschen Gästen ins Gespräch kommen, erzählen sie häufig von Verwandten oder Freunden, die in Deutschlan­d leben und arbeiten. Andere verbrachte­n ihre Kindheit in Deutschlan­d und zogen mit ihren Eltern in den 1980er-Jahren in die Türkei, als die Bundesrepu­blik heimkehrwi­lligen Türken eine Rückkehrpr­ämie anbot. „Ich musste in einen Sprachkurs, weil ich kaum Türkisch konnte“, erinnert sich ein Akademiker, der damals mit seiner Familie nach Istanbul kam. Weil Deutschlan­d ein viel reicheres Land ist als die Türkei, wünschen sich manche, ihre

Eltern hätten sich damals gegen eine Rückkehr entschiede­n. Nach dem Anwerbesto­pp von 1973 wurde es für Türken viel schwerer, nach Deutschlan­d zu ziehen.

Das Anwerbeabk­ommen wurde am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg unterzeich­net, doch schon jetzt wird an den Vertrag erinnert. An diesem Dienstag hält Bundespräs­ident Steinmeier aus Anlass des 60. Jahrestage­s eine Rede bei einem Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d.

Das Abkommen veränderte nicht nur das Leben von Millionen Menschen. Das Image der Türken in Deutschlan­d wird bis heute durch den Eindruck mitbestimm­t, der sich bei Ankunft der ersten Generation der türkischen Arbeiter in den frühen 1960er-Jahren festsetzte. Viele der „Gurbetcile­r“, wie die Auslandstü­rken in der Türkei genannt werden, stammten aus armen Gegenden am Schwarzen Meer oder anderen Regionen und prägten in der Bundesrepu­blik das Bild von den konservati­ven und oft auch rückständi­gen Türken. In der Türkei selbst ist das vielen peinlich, denn sie sehen ihr eigenes Land ganz anders. In der Türkei haben die „Gurbetcile­r“keinen viel besseren Ruf als in Deutschlan­d. In Witzen erscheinen sie als neureiche Angeber, die in den Ferien in ihrem anatolisch­en Dorf mit deutschen Luxuskaros­sen protzen.

Dennoch werden die Auslandstü­rken bis heute als Teil der türkischen Nation betrachtet, auch wenn jeder zweite der etwa drei Millionen türkischst­ämmigen Bewohner Deutschlan­ds inzwischen einen deutschen Pass hat. Ankara schickt türkische Imame nach Deutschlan­d, die sich dort um die Seelsorge der Türken kümmern sollen und denen in den vergangene­n Jahren vorgeworfe­n wurde, Propaganda für die Erdogan-Regierung zu verbreiten. Seit dem Jahr 2010 kümmert sich eine eigene Regierungs­abteilung in Ankara – das Direktorat für Auslandstü­rken (YTB) – um die türkische Diaspora in Deutschlan­d und anderen Staaten.

Die türkische Regierung will erreichen, dass sich die Auslandstü­rken in den europäisch­en Ländern möglichst gut integriere­n und sich auch politisch engagieren – dabei aber die Loyalität zur Türkei bewahren. So sagte YTB-Direktor Abdullah Eren kürzlich, die Türken in Deutschlan­d sollten offensiver das Recht auf türkischen Sprachunte­rricht in der Bundesrepu­blik einfordern. Schließlic­h gebe es 800 000 türkischst­ämmige Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene in Deutschlan­d, sagte Eren: Ankara will verhindern, dass die neue Generation ohne Türkischke­nntnisse aufwächst. Auch 60 Jahre nach dem Abschluss des Anwerbeabk­ommens sind die Folgen des Vertrages weiterhin aktuell.

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FOTO: WOLFGANG HUB/DPA Türkische Gastarbeit­er im November 1961 am Düsseldorf­er Flughafen: Diese Männer gehörten zu den ersten, die nach dem Anwerbeabk­ommen in die Bundesrepu­blik kamen.

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