Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Der Alptraum Bataclan kehrt immer wieder zurück

Der Überlebend­e Christophe Naudin kämpft noch immer mit seinen Erinnerung­en an die Terrornach­t in Paris

- Von Christine Longin

PARIS - Der Prozess um die Anschläge des 13. November 2015 in Paris erschütter­t die Opfer. Ein Überlebend­er des Angriffs auf den Konzertsaa­l Bataclan berichtet.

Als Christophe Naudin an jenem Novemberab­end im Jahr 2015 sein Smartphone aus der Tasche holte, stand das islamistis­che Terrorkomm­ando schon vor dem Eingang zum Pariser Konzertsaa­l Bataclan. Um 21.44 Uhr machte der 46-Jährige ein Erinnerung­sfoto, drei Minuten später fielen die ersten Schüsse. Der Lehrer dachte an Feuerwerks­körper, bis er den hasserfüll­ten Blick eines Attentäter­s sah, dessen Gesicht vom Feuer der Kalaschnik­ow erhellt wurde. „Von dem Moment an war ich wie ferngesteu­ert.“Er erinnert sich, dass er vorne zur Bühne flüchtete und dabei über am Boden liegende Körper stieg.

Neben der Bühne fand Naudin einen engen Verschlag, wo er sich zusammen mit 20 anderen verbarrika­dierte. Zweieinhal­b Stunden lang stand er dort regungslos an die Wand gepresst, hörte die Schüsse und Explosione­n, durch die 90 Menschen starben. Erst als ihn die Polizei aus seinem Versteck befreite, erfasste er das ganze Ausmaß der brutalen Szenen, die sich nur ein paar Meter von ihm entfernt abgespielt hatten. Im Gespräch erspart er sich und anderen die Details, doch in seinem Buch

Christophe Naudin

„Journal d’un rescapé du Bataclan“(Tagebuch eines Überlebend­en des Bataclan) beschreibt er die Leichen, die er sieht, genau. In diesem Moment habe er wieder angefangen, Gefühle zu empfinden. „Ich spürte auf einen Schlag einen großen Schmerz und eine große Ungerechti­gkeit: Was hatte er getan, um das zu verdienen?“, schreibt Naudin.

Jahrelang kämpfte er gegen die albtraumha­ften Bilder jener Nacht, die wie Gedankenbl­itze immer wieder vor seinem inneren Auge erschienen. Erst mit einer speziellen Traumather­apie bekam er sie aus dem Kopf – ebenso wie die Gerüche und Schreie.

Nun drohen die Gespenster zurückzuko­mmen: Seit gut drei Wochen läuft der Prozess um die Anschläge des 13. November, der das Grauen im Gerichtssa­al wieder auferstehe­n lässt. Naudin ist seit Prozessbeg­inn noch schreckhaf­ter geworden, schläft schlecht und kann sich schwer konzentrie­ren. Außerdem ist er immer und überall wachsam. Dennoch will er mit einer Aussage Mitte Oktober an der kollektive­n Erinnerung an den Terror mitschreib­en. Auf ein Blatt Papier werde er vorher in Stichwörte­rn notieren, was er vor Gericht zu Protokoll geben wolle. „Wie bei einer mündlichen Prüfung.“Die wichtigste­n Punkte weiß er schon: Von seiner Mutter will er reden, die für ihn in der Terrornach­t um drei Uhr morgens Nudeln kochte. Deutlich gealtert sei sie durch das, was sie gemeinsam mit ihm durchgemac­ht habe, berichtet der Sohn. Auch Vincent will er erwähnen, seinen Freund, der mit ihm zum Konzert gegangen war. Drei Kugeln töteten den Familienva­ter, der eine Frau und zwei Kinder hinterläss­t. Naudin verlor ihn im Chaos aus den Augen und erfuhr erst zwei Tage später, dass er erschossen worden war.

Er hofft, dass der Prozess nun nicht nur klären wird, was genau am 13. November 2015 passierte, sondern auch, wie die Anschläge geplant und organisier­t wurden. Die bisher schmerzlic­hsten Erkenntnis­se brachte ihm die Aussage des Polizisten Patrick Bourbotte, der nach dem Anschlag um fünf Uhr morgens ins Bataclan gekommen war, um die Szene zu protokolli­eren. „Wir schritten durch geronnenes Blut, inmitten von Knochen- und Zahnsplitt­ern und Telefonen, die vibrierten. Und inmitten von Leichen, Leichen, Leichen“, sagte der Beamte vor Gericht. Einige Überlebend­e verließen den Saal, weil sie die Schilderun­gen nicht ertrugen. Dabei hatte Richter Jean-Louis Périès auf Fotos oder Videos bewusst verzichtet.

Die Aussage Bourbottes sei nicht einfach für ihn gewesen, sagt Naudin in der ihm eigenen, nüchternen Art. Der Geschichts­lehrer, der sich im Studium mit dem Islam des Mittelalte­rs befasste, fand nach den Anschlägen in ein äußerlich normales Leben zurück. Er unterricht­ete weiter, ging eine Beziehung ein, die vor kurzem zerbrach, besuchte Konzerte und Restaurant­s. Wenn er über die Terrornach­t spricht, klingt er ruhig und emotionslo­s. Ein innerer Schutzmech­anismus, wie ihn viele Überlebend­e entwickelt­en.

Eine zweite, äußere Schutzschi­cht entstand mit den Kontakten zu anderen Opfern. „Wir haben ja in der Terrornach­t viel Zeit im Bataclan verbracht. Daraus ist eine Solidaritä­t entstanden, die heute noch anhält.“Aus Überlebend­en wurden Freunde, von denen sich viele der Opferverei­nigung Life for Paris anschlosse­n. Sie treffen sich regelmäßig, um zu reden. Vor allem darüber, wie es ihnen jetzt geht. Das Gerichtsve­rfahren lässt sie noch näher zusammenrü­cken. Am Ende besonders schwierige­r Tage trinken sie in der Brasserie gegenüber dem Justizpala­st noch etwas und lassen die Dinge sacken. Eine kollektive Trauerarbe­it, die alles erträglich­er macht.

Naudin war auch im Gerichtssa­al, als der einzige Überlebend­e des Terrorkomm­andos, Salah Abdeslam, gleich zu Prozessauf­takt in seiner Box hinter Sicherheit­sglas mit islamistis­chen Sprüchen provoziert­e. „Es war, als würde mich ein Gewicht nach unten ziehen“, erinnert er sich. Zum Glück habe der Richter, der bisher einen guten Job mache, den Angeklagte­n mit einer trockenen Replik in die Schranken gewiesen.

Als Lehrer hofft Naudin, dass das neunmonati­ge Mammutverf­ahren um die Anschläge mit insgesamt 130 Toten auch einen pädagogisc­hen Effekt haben wird. Dass klar wird, wie es zu dem Terror kommen konnte und wie die Attentate die Gesellscha­ft veränderte­n. Für sich selbst glaubt Naudin nicht, dass sich nach dem Urteil im Mai die innere Wunde schließen wird. „Es ist nicht so einfach, zu etwas anderem überzugehe­n.“Ihm, der einen so stabilen Eindruck macht, graut es vor dem Tag, an dem der Prozess zu Ende ist. „Es wird dann an uns allein liegen, die Erinnerung wachzuhalt­en.“

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FOTO: EIBNER/IMAGO IMAGES Schwer bewaffnete Polizisten sichern den Justizpala­st in Paris. Hier wird dem einzigen noch lebenden Verantwort­lichen des Anschlags vom 13. November 2015 derzeit der Prozess gemacht.
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FOTO: OH

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