Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Mahlers erschütternder Abschied von der Welt
Kirill Petrenko und das Symphonieorchester Vorarlberg schließen mit der neunten Symphonie den Zyklus ab
BREGENZ - Nach 13 Jahren hat sich der Kreis einer gemeinsamen Auseinandersetzung von Kirill Petrenko und dem Symphonieorchester Vorarlberg (SOV) mit den Symphonien von Gustav Mahler in der grandiosen Aufführung der neunten Symphonie geschlossen. „Alle neune“, dazu einige Liederzyklen hat Petrenko in den letzten Jahren mit dem Orchester erarbeitet, immer wurden es Höhepunkte im Konzertleben. Selbst die Corona-Pandemie konnte der Verwirklichung des Projekts nichts anhaben. Nach mehrmaliger Verschiebung haben am Wochenende die Aufführungen in Bregenz und Feldkirch in ausverkauften Häusern vor einem begeisterten Publikum stattgefunden.
Als Petrenko damals mit Mahler begann, wollte er die Symphonien
Kirill Petrenko dirigiert Gustav Mahler mit dem SOV.
mit dem SOV zuerst in Bregenz, abseits der großen Metropolen, erarbeiten. Der russische Dirigent, der mit 18 Jahren nach Vorarlberg gekommen war und sein Studium in
Wien abschloss, hatte seine Karriere bereits mit wichtigen Stationen in Wien, Meiningen und Berlin gestartet. Die weiteren Sprünge in seiner Laufbahn sind bekannt: Jubelstürme gab es bei seinen Interpretationen von Wagners „Ring“in Bayreuth, sieben Jahre setzte er Maßstäbe als Generalmusikdirektor an der Bayrischen Staatsoper und nun wirkt er als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker in der Nachfolge von Sir Simon Rattle. Doch immer wieder kehrte er zu Mahler und nach Vorarlberg zurück.
Die Neunte: Seit Beethovens neunter Symphonie hat diese Zahl für die Komponisten der Romantik eine besondere Bedeutung gehabt, besonders aber für Bruckner und Mahler. Bruckners Neunte bricht nach dem gewaltigen langsamen Satz unvollendet ab, der abergläubische Mahler scheute sich vor seiner neunten Symphonie. Schließlich rang er sich das Werk während zweier Sommer in den Ferien ab, gezeichnet von Schicksalsschlägen, Krankheit und Ehekrise. So ist die neunte Symphonie auch ein Werk des Abschieds, der Auflehnung, des Verstummens. Die Uraufführung am 26. Juni 1912 hat der Komponist nicht mehr erlebt, die dunklen Vorahnungen des Künstlers hatten sich erfüllt.
So wie das Finale im dreifachen Pianissimo der Streicher verlischt, so erlebt man zu Beginn das Werden einer Symphonie, die Bildung von Themen aus zunächst stockenden, vereinzelten Motiven. Zurückgenommen und hochkonzentriert formt Petrenko mit den fast 100 Musikerinnen und Musikern diesen Beginn, der bald zu ersten Höhepunkten, Schicksalsklängen, Widerständen führt. Verstörend sind diese Wechsel von höchster Anspannung und Leichtigkeit,
von Aufbegehren und Neubeginn, von verfremdeten Klängen der gestopften Blechbläser und aus dem Nichts aufsteigenden Geigensoli.
Petrenko hat dies alles souverän in der Hand, das SOV begibt sich mit der großen Streichergruppe, den vielfarbigen Holzbläsern, dem warmen oder schmetternden Blech und den Schlagwerken mit größtem Engagement hinein in die komplexe Partitur. Mahlers Abschied von der Welt spiegelt sich im ersten Satz in einer ungeheuer modernen Tonsprache zwischen Weltgericht und Trauermarsch.
Aus früheren Symphonien vertraut ist der gebrochene Tonfall des zweiten Satzes, der mit Tanzmelodien, Ironie, Verfremdung und tönenden Grimassen spielt. In diesem „Totentanz“(so der Dirigent Willem Mengelberg) breiten Petrenko und das SOV die ganze Farbpalette einer doppelbödig zwielichtig fröhlichen
Musik aus, bevor mit dem dritten Satz (überschrieben mit Rondo – Burleske) Urgewalten eines beißenden Ländlers losbrechen. Es klingt nach Fegefeuer und Hexensabbat eines in all seiner Virtuosität geforderten Orchesters und es bedarf einer langen Sammlung, bevor Petrenko die langen Atembögen des abschließenden Adagios gestaltet.
Nur wenige Partiturseiten umfasst dieser Variationensatz, doch scheinen sie wie ein verdichteter Rückblick auf Mahlers Lebenswerk mit einer Melodie, die aus den „Kindertotenliedern“herüberweht. Mit dem Gesang der Streicher, die so zerbrechlich und klangsatt zugleich spielen, den erschütternden Höhepunkten und dem langen Ersterben der letzten Takte spannt Petrenko den Bogen ins Unendliche. Ovationen für diesen Abend und das Gesamtkunstwerk „Mahler 9x9“.