Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Am Ende fließen Tränen: Stolpersteine erinnern an die ermordete Familie Weil
Zum ersten Mal werden in Ulm die Steine ohne den Künstler Gunter Demnig verlegt – Angehörige der Nazi-Opfer sind gerührt, einer geht einen besonderen Schritt
ULM - Weil sie kränklich war, blieb die jüngste Tochter Edith bei ihren Eltern Isidor und Elsa Weil. Die Geschwister Otto und Mathilde siedelten nach England um. Edith wurde ermordet, im Oktober 1944, gemeinsam mit ihrer Mutter, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Stolpersteine in der Ulmer Hirschstraße erinnern nun an die jüdische Familie. Zur Verlegung sind die Nachkommen von Otto und Mathilde aus England und Amsterdam zugeschaltet. Gerührt verfolgen sie, wie ihrer Verwandten gedacht wird. Einer von ihnen, Mathildes Sohn, entscheidet sich zu einem besonderen Schritt.
Es ist ein sonniger Freitag, zum achten Mal werden in Ulm und NeuUlm Stolpersteine verlegt. Zum ersten Mal fehlt ein Mann: der Künstler Gunter Demnig, der die Stolpersteine selbst erstellt und üblicherweise selbst verlegt. Diesmal geht das nicht, wegen der Corona-Pandemie haben sich viele Termine verschoben, es kommt zu Kollisionen.
Demnig, sagt Martin König von der Initiative „Stolpersteine für Ulm“, habe die Aufgabe in die Hände der regionalen Gruppe gelegt. Sonst kniet der bärtige Künstler mit dem Schlapphut auf dem Boden, nun verlegen drei Männer vom Ulmer Bauhof die Stolpersteine. Ein „besonderes, fast liebevolles Engagement“, beobachtet König. Und wirklich: Der Mann in Orange, der nun vor dem Haus Hirschstraße 1 kniet, misst und tariert die mit einer gravierten Messingplatte versehenen Steine sorgsam aus und wischt die glänzende Oberfläche dann vorsichtig ab.
An neun weiteren Orten in Ulm erinnern die Stolpersteine an Opfer der Nationalsozialisten. An die Familie Chose, an Paul Nathan, an Charlotte Steiner, Oskar John, Pauline Bassler, Norbert Groß, Wolfgang Girmond, Gustav Frey und an Familie Weil.
Isidor Weil war Kaufmann und Soldat im Ersten Weltkrieg. 1920 heiratete er in Neu-Ulm Elsa Kahn, die wohl bis kurz nach der Hochzeit ein Modegeschäft führte. Das Ehepaar zog nach Ulm und bekam drei Kinder: Otto (geboren 1921), Mathilde (geboren 1923) und Edith (geboren 1926). Die Familie lebte erst in der Olgastraße 66 und danach in der Hirschstraße 1, wo die Stolpersteine an sie erinnern.
Isidor betrieb am Münsterplatz ein Herren- und Knabenkonfektionsgeschäft, für das er 1929 Konkurs anmeldete. Danach arbeitete Elsa bis zur Arisierung im September 1937 als Abteilungsleiterin im Ulmer Kaufund Warenhaus der jüdischen Brüder Landauer. 1938 zog die Familie, beide Eltern waren jetzt ohne Arbeit, zu einer Schwester Elsas in die Karpfengasse 4.
Mathilde und Otto konnten 1937 und 1939 nach England umsiedeln sie waren 14 Jahre und 18 Jahre alt. Die kränkliche Edith blieb bei den Eltern. Mathilde ging in England weiter zur Schule, arbeitete als Hausgehilfin und Köchin. Nach dem Krieg machte sie eine Ausbildung zur Heilgymnastikerin. Sie starb im Februar 2021 im Alter von 96 Jahren.
Otto begann 1935 eine Lehre bei einem jüdischen Metzger, seine Gesellenprüfung
wurde ihm verwehrt. Auf die Umsiedlung bereitete er sich mit einer landwirtschaftlichen Ausbildung in Schlesien vor. In England arbeitete er als Landarbeiter und diente als Soldat in den britischen
Streitkräften. 1943 benannte er sich in Michael Wheeler um, später wurde er Fotograf. Er starb im Februar 2018, ebenfalls 96 Jahre alt.
Isidor, Elsa und Edith zogen 1939 nach Laupheim, wo Elsa die Leitung des jüdischen Altersheimes übernahm. Am 22. August 1942 wurden sie von Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Der Gesundheitszustand von Isidor verschlechterte sich und er starb am 7. Februar 1943. Im Oktober 1944 wurden Elsa und Edith nach Auschwitz-Birkenau gebracht und dort ermordet.
Bei der Verlegung der Stolpersteine verlesen Yvonne Schefler und Marc Tritsch die Lebensläufe auf Deutsch und Englisch, dann melden sich die digital zugeschalteten Verwandten in England zu Wort. Ottos beziehungsweise Michaels Sohn Bob Wheeler verspricht, er wolle eines Tages selbst nach Ulm kommen und die Stolpersteine ansehen. Seine Schwester Barbara sagt, ihr Vater habe bis in seine letzten Jahre nie über das Erlebte gesprochen. Jetzt beginne ein Heilungsprozess für die Familie.
Martin Fraenkel ist der Sohn von Mathilde, er spricht Deutsch. „Meine Mutter und ihr Bruder waren immer stolz, Ulmer zu sein“, berichtet er. Auch die beiden, ist er überzeugt, wären stolz auf die Stolpersteine gewesen. Fraenkel rühmt die Art und Weise, wie Stadt und Initiative auf die Familie zugegangen und wie sie mit ihr umgegangen sind. Er fühle sich willkommen. Und er sagt: „Wegen dieses warmen Willkommens haben meine Schwester und ich uns entschlossen, deutsche Staatsbürger zu werden.“Die Ulmer Ehrenamtlichen lächeln, eine Zuseherin wischt sich Tränen aus den Augen.