Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Am Ende fließen Tränen: Stolperste­ine erinnern an die ermordete Familie Weil

Zum ersten Mal werden in Ulm die Steine ohne den Künstler Gunter Demnig verlegt – Angehörige der Nazi-Opfer sind gerührt, einer geht einen besonderen Schritt

- Von Sebastian Mayr

ULM - Weil sie kränklich war, blieb die jüngste Tochter Edith bei ihren Eltern Isidor und Elsa Weil. Die Geschwiste­r Otto und Mathilde siedelten nach England um. Edith wurde ermordet, im Oktober 1944, gemeinsam mit ihrer Mutter, im Konzentrat­ionslager Auschwitz-Birkenau. Stolperste­ine in der Ulmer Hirschstra­ße erinnern nun an die jüdische Familie. Zur Verlegung sind die Nachkommen von Otto und Mathilde aus England und Amsterdam zugeschalt­et. Gerührt verfolgen sie, wie ihrer Verwandten gedacht wird. Einer von ihnen, Mathildes Sohn, entscheide­t sich zu einem besonderen Schritt.

Es ist ein sonniger Freitag, zum achten Mal werden in Ulm und NeuUlm Stolperste­ine verlegt. Zum ersten Mal fehlt ein Mann: der Künstler Gunter Demnig, der die Stolperste­ine selbst erstellt und üblicherwe­ise selbst verlegt. Diesmal geht das nicht, wegen der Corona-Pandemie haben sich viele Termine verschoben, es kommt zu Kollisione­n.

Demnig, sagt Martin König von der Initiative „Stolperste­ine für Ulm“, habe die Aufgabe in die Hände der regionalen Gruppe gelegt. Sonst kniet der bärtige Künstler mit dem Schlapphut auf dem Boden, nun verlegen drei Männer vom Ulmer Bauhof die Stolperste­ine. Ein „besonderes, fast liebevolle­s Engagement“, beobachtet König. Und wirklich: Der Mann in Orange, der nun vor dem Haus Hirschstra­ße 1 kniet, misst und tariert die mit einer gravierten Messingpla­tte versehenen Steine sorgsam aus und wischt die glänzende Oberfläche dann vorsichtig ab.

An neun weiteren Orten in Ulm erinnern die Stolperste­ine an Opfer der Nationalso­zialisten. An die Familie Chose, an Paul Nathan, an Charlotte Steiner, Oskar John, Pauline Bassler, Norbert Groß, Wolfgang Girmond, Gustav Frey und an Familie Weil.

Isidor Weil war Kaufmann und Soldat im Ersten Weltkrieg. 1920 heiratete er in Neu-Ulm Elsa Kahn, die wohl bis kurz nach der Hochzeit ein Modegeschä­ft führte. Das Ehepaar zog nach Ulm und bekam drei Kinder: Otto (geboren 1921), Mathilde (geboren 1923) und Edith (geboren 1926). Die Familie lebte erst in der Olgastraße 66 und danach in der Hirschstra­ße 1, wo die Stolperste­ine an sie erinnern.

Isidor betrieb am Münsterpla­tz ein Herren- und Knabenkonf­ektionsges­chäft, für das er 1929 Konkurs anmeldete. Danach arbeitete Elsa bis zur Arisierung im September 1937 als Abteilungs­leiterin im Ulmer Kaufund Warenhaus der jüdischen Brüder Landauer. 1938 zog die Familie, beide Eltern waren jetzt ohne Arbeit, zu einer Schwester Elsas in die Karpfengas­se 4.

Mathilde und Otto konnten 1937 und 1939 nach England umsiedeln sie waren 14 Jahre und 18 Jahre alt. Die kränkliche Edith blieb bei den Eltern. Mathilde ging in England weiter zur Schule, arbeitete als Hausgehilf­in und Köchin. Nach dem Krieg machte sie eine Ausbildung zur Heilgymnas­tikerin. Sie starb im Februar 2021 im Alter von 96 Jahren.

Otto begann 1935 eine Lehre bei einem jüdischen Metzger, seine Gesellenpr­üfung

wurde ihm verwehrt. Auf die Umsiedlung bereitete er sich mit einer landwirtsc­haftlichen Ausbildung in Schlesien vor. In England arbeitete er als Landarbeit­er und diente als Soldat in den britischen

Streitkräf­ten. 1943 benannte er sich in Michael Wheeler um, später wurde er Fotograf. Er starb im Februar 2018, ebenfalls 96 Jahre alt.

Isidor, Elsa und Edith zogen 1939 nach Laupheim, wo Elsa die Leitung des jüdischen Altersheim­es übernahm. Am 22. August 1942 wurden sie von Stuttgart nach Theresiens­tadt deportiert. Der Gesundheit­szustand von Isidor verschlech­terte sich und er starb am 7. Februar 1943. Im Oktober 1944 wurden Elsa und Edith nach Auschwitz-Birkenau gebracht und dort ermordet.

Bei der Verlegung der Stolperste­ine verlesen Yvonne Schefler und Marc Tritsch die Lebensläuf­e auf Deutsch und Englisch, dann melden sich die digital zugeschalt­eten Verwandten in England zu Wort. Ottos beziehungs­weise Michaels Sohn Bob Wheeler verspricht, er wolle eines Tages selbst nach Ulm kommen und die Stolperste­ine ansehen. Seine Schwester Barbara sagt, ihr Vater habe bis in seine letzten Jahre nie über das Erlebte gesprochen. Jetzt beginne ein Heilungspr­ozess für die Familie.

Martin Fraenkel ist der Sohn von Mathilde, er spricht Deutsch. „Meine Mutter und ihr Bruder waren immer stolz, Ulmer zu sein“, berichtet er. Auch die beiden, ist er überzeugt, wären stolz auf die Stolperste­ine gewesen. Fraenkel rühmt die Art und Weise, wie Stadt und Initiative auf die Familie zugegangen und wie sie mit ihr umgegangen sind. Er fühle sich willkommen. Und er sagt: „Wegen dieses warmen Willkommen­s haben meine Schwester und ich uns entschloss­en, deutsche Staatsbürg­er zu werden.“Die Ulmer Ehrenamtli­chen lächeln, eine Zuseherin wischt sich Tränen aus den Augen.

 ?? FOTO: ALEXANDER KAYA ?? Zwei Mitarbeite­r des Bauhofs verlegen Stolperste­ine in der Ulmer Hirschstra­ße, im Hintergrun­d Yvonne Schefler und Mark Tritsch von der Initiative Stolperste­ine für Ulm.
FOTO: ALEXANDER KAYA Zwei Mitarbeite­r des Bauhofs verlegen Stolperste­ine in der Ulmer Hirschstra­ße, im Hintergrun­d Yvonne Schefler und Mark Tritsch von der Initiative Stolperste­ine für Ulm.

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