Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Gipfel der enttäuschten Erwartungen
Bei ihrem Treffen mit den Regierungschefs des Westbalkans setzt die EU ihre Hinhaltetaktik fort
BRÜSSEL/BRDO - Eine „sehr klare Botschaft“versprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch zu Beginn des Westbalkan-Gipfels im slowenischen Brdo den Kandidatenländern. Klar war die Botschaft der Staats- und Regierungschefs am Ende tatsächlich, doch beinhaltete sie nicht, was von der Leyen angekündigt hatte: Das eindeutige Bekenntnis zur gemeinsamen europäischen Bestimmung und zur gemeinsamen Zukunft.
Stattdessen stellte die EU den Kandidaten 30 Milliarden Euro für einen Wirtschafts- und Investitionsplan in Aussicht sowie den Wegfall der Rominggebühren beim Mobiltelefonieren in der EU. Das dürfte jedoch nicht ausreichen, um die Enttäuschung der sechs noch nicht zur EU gehörigen Staaten der Region zu dämpfen.
Statt einen klaren Zeitplan für die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro, den Start für Albanien und Nord-Mazedonien und die möglichen Perspektiven für Bosnien-Herzegowina und das Kosovo festzulegen, verwiesen die Gipfelteilnehmer auf Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit, der Pressefreiheit und der Korruptionsbekämpfung.
Diese Defizite sind unbestritten groß, aber nicht der Grund für die ständigen Verschiebungen. Die Geschichte der EU-Osterweiterung kennt zahlreiche Beispiele, bei denen Kandidaten den strengen Beitrittskriterien noch längst nicht genügten und dennoch aus übergeordneten politischen Erwägungen grünes Licht für ihre Aufnahme in die EU erhielten. An den Folgen der übereilten Beitrittswelle 2004, als unter anderem Tschechien, Polen, Ungarn und Rumänien in die EU kamen, krankt die Gemeinschaft noch heute. Bulgarien und Rumänien, die 2007 dazustießen, sind bis heute Sorgenkinder.
Aus diesen Fehlern hat die EU gelernt und ist deutlich vorsichtiger geworden. Der Optimismus, dass ein Beitritt den demokratischen Rechtsstaat in jedem Fall fördert und festigt, ist durch die Entwicklung in Ungarn, Polen, Tschechien und Slowenien erschüttert worden. Zwar betonte Lettlands Premier Arturs Krisjanis Karins gestern in Brdo, in seinem Land sei genau das geschehen. Erst der Beitritt habe den Boden für echte Reformen bereitet. Von diesem positiven Prozess sollten auch die Länder des Westbalkans profitieren. Auf einen Zeitplan aber wollte auch er sich nicht festlegen.
Regelrecht erweiterungsmüde sind die Franzosen. Die französische Ratspräsidentschaft ab Januar 2022, da sind sich Beobachter sicher, wird dem Prozess keine neue Dynamik verleihen. Deshalb war es risikolos für zahlreiche Regierungschefs möglich, ein flotteres Tempo anzumahnen. Ob der Niederländer Mark Rutte, der Luxemburger Xavier Bettel oder die Finnin Sanna Marin: Sie alle zeigten Verständnis für die wachsende Ungeduld in der Region und warnten, dass China, Russland oder die Türkei von der Enttäuschung profitieren und ihren Einfluss in der Region verstärken könnten.
Diese Gefahr wird auch in Brüssel gesehen. Von der Leyen versuchte gegenzusteuern, indem sie mit den Worten warb, dass die Segnungen der EU nicht mit Verpflichtungen verbunden seien. Europa biete hohe Qualität, Verlässlichkeit und Transparenz.
Der Ruf der Verlässlichkeit allerdings hat über die Jahre gelitten. Kosovos Regierungschef Albin Kurti erinnerte daran, dass vor drei Jahren die Kommission zum zweiten Mal Visaerleichterungen für sein Land empfohlen habe – geschehen sei bis heute nichts. Dabei stehe man treu zur Union und habe „keine einzige Impfdosis“von Russland oder China angenommen.
Einige EU-Aspiranten haben ganz eigene Probleme. Nord-Mazedonien, das auf griechisches Drängen vor zwei Jahren sogar seinen Landesnamen änderte, wird der EU keinen Zentimeter näher kommen, solange Bulgarien den Prozess blockiert. Als Einziger redete Bulgariens Präsident Rumen Radev in Brdo Klartext. Er verlangt von Nord-Mazedonien eine Verfassungsänderung, die der bulgarischen Minderheit garantiert, dass sie ihre Identität als eigenständige Volksgruppe im Land bewahren kann. Auch müsse die „historische Realität“anerkannt werden – was nach bulgarischer Lesart bedeutet, dass die mazedonische Sprache als bulgarischer Dialekt einzustufen ist.
Und so konkurrieren in der Region die Überbleibsel fast vergessener Konflikte und kleinlicher nachbarschaftlicher Zänkereien mit den großen Linien der Weltpolitik. Die EU wiederum steckt in der Krise und weiß derzeit selbst nicht, ob sie künftig ein loser an Interessenpolitik ausgerichteter Staatenbund oder eine enger zusammenwachsende Wertegemeinschaft sein will. Bis diese Grundfrage halbwegs entschieden ist, bleibt der Westbalkan in der Warteschleife. Der interne Klärungsprozess, so viel ist sicher, wird sich noch eine ganze Weile hinziehen.