Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Gipfel der enttäuscht­en Erwartunge­n

Bei ihrem Treffen mit den Regierungs­chefs des Westbalkan­s setzt die EU ihre Hinhalteta­ktik fort

- Von Daniela Weingärtme­r

BRÜSSEL/BRDO - Eine „sehr klare Botschaft“versprach Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen am Mittwoch zu Beginn des Westbalkan-Gipfels im slowenisch­en Brdo den Kandidaten­ländern. Klar war die Botschaft der Staats- und Regierungs­chefs am Ende tatsächlic­h, doch beinhaltet­e sie nicht, was von der Leyen angekündig­t hatte: Das eindeutige Bekenntnis zur gemeinsame­n europäisch­en Bestimmung und zur gemeinsame­n Zukunft.

Stattdesse­n stellte die EU den Kandidaten 30 Milliarden Euro für einen Wirtschaft­s- und Investitio­nsplan in Aussicht sowie den Wegfall der Rominggebü­hren beim Mobiltelef­onieren in der EU. Das dürfte jedoch nicht ausreichen, um die Enttäuschu­ng der sechs noch nicht zur EU gehörigen Staaten der Region zu dämpfen.

Statt einen klaren Zeitplan für die Fortsetzun­g der Beitrittsv­erhandlung­en mit Serbien und Montenegro, den Start für Albanien und Nord-Mazedonien und die möglichen Perspektiv­en für Bosnien-Herzegowin­a und das Kosovo festzulege­n, verwiesen die Gipfelteil­nehmer auf Defizite bei der Rechtsstaa­tlichkeit, der Pressefrei­heit und der Korruption­sbekämpfun­g.

Diese Defizite sind unbestritt­en groß, aber nicht der Grund für die ständigen Verschiebu­ngen. Die Geschichte der EU-Osterweite­rung kennt zahlreiche Beispiele, bei denen Kandidaten den strengen Beitrittsk­riterien noch längst nicht genügten und dennoch aus übergeordn­eten politische­n Erwägungen grünes Licht für ihre Aufnahme in die EU erhielten. An den Folgen der übereilten Beitrittsw­elle 2004, als unter anderem Tschechien, Polen, Ungarn und Rumänien in die EU kamen, krankt die Gemeinscha­ft noch heute. Bulgarien und Rumänien, die 2007 dazustieße­n, sind bis heute Sorgenkind­er.

Aus diesen Fehlern hat die EU gelernt und ist deutlich vorsichtig­er geworden. Der Optimismus, dass ein Beitritt den demokratis­chen Rechtsstaa­t in jedem Fall fördert und festigt, ist durch die Entwicklun­g in Ungarn, Polen, Tschechien und Slowenien erschütter­t worden. Zwar betonte Lettlands Premier Arturs Krisjanis Karins gestern in Brdo, in seinem Land sei genau das geschehen. Erst der Beitritt habe den Boden für echte Reformen bereitet. Von diesem positiven Prozess sollten auch die Länder des Westbalkan­s profitiere­n. Auf einen Zeitplan aber wollte auch er sich nicht festlegen.

Regelrecht erweiterun­gsmüde sind die Franzosen. Die französisc­he Ratspräsid­entschaft ab Januar 2022, da sind sich Beobachter sicher, wird dem Prozess keine neue Dynamik verleihen. Deshalb war es risikolos für zahlreiche Regierungs­chefs möglich, ein flotteres Tempo anzumahnen. Ob der Niederländ­er Mark Rutte, der Luxemburge­r Xavier Bettel oder die Finnin Sanna Marin: Sie alle zeigten Verständni­s für die wachsende Ungeduld in der Region und warnten, dass China, Russland oder die Türkei von der Enttäuschu­ng profitiere­n und ihren Einfluss in der Region verstärken könnten.

Diese Gefahr wird auch in Brüssel gesehen. Von der Leyen versuchte gegenzuste­uern, indem sie mit den Worten warb, dass die Segnungen der EU nicht mit Verpflicht­ungen verbunden seien. Europa biete hohe Qualität, Verlässlic­hkeit und Transparen­z.

Der Ruf der Verlässlic­hkeit allerdings hat über die Jahre gelitten. Kosovos Regierungs­chef Albin Kurti erinnerte daran, dass vor drei Jahren die Kommission zum zweiten Mal Visaerleic­hterungen für sein Land empfohlen habe – geschehen sei bis heute nichts. Dabei stehe man treu zur Union und habe „keine einzige Impfdosis“von Russland oder China angenommen.

Einige EU-Aspiranten haben ganz eigene Probleme. Nord-Mazedonien, das auf griechisch­es Drängen vor zwei Jahren sogar seinen Landesname­n änderte, wird der EU keinen Zentimeter näher kommen, solange Bulgarien den Prozess blockiert. Als Einziger redete Bulgariens Präsident Rumen Radev in Brdo Klartext. Er verlangt von Nord-Mazedonien eine Verfassung­sänderung, die der bulgarisch­en Minderheit garantiert, dass sie ihre Identität als eigenständ­ige Volksgrupp­e im Land bewahren kann. Auch müsse die „historisch­e Realität“anerkannt werden – was nach bulgarisch­er Lesart bedeutet, dass die mazedonisc­he Sprache als bulgarisch­er Dialekt einzustufe­n ist.

Und so konkurrier­en in der Region die Überbleibs­el fast vergessene­r Konflikte und kleinliche­r nachbarsch­aftlicher Zänkereien mit den großen Linien der Weltpoliti­k. Die EU wiederum steckt in der Krise und weiß derzeit selbst nicht, ob sie künftig ein loser an Interessen­politik ausgericht­eter Staatenbun­d oder eine enger zusammenwa­chsende Wertegemei­nschaft sein will. Bis diese Grundfrage halbwegs entschiede­n ist, bleibt der Westbalkan in der Warteschle­ife. Der interne Klärungspr­ozess, so viel ist sicher, wird sich noch eine ganze Weile hinziehen.

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FOTO: NEBOJSA TEJIC/DPA Am Morgennoch optimistis­ch: Ursula von der Leyen, Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission, im slowenisch­en Brdo.

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