Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Kleine Moleküle mit großer Kraft

Chemie-Nobelpreis geht auch an Benjamin List – Entdeckung für Medikament­e wichtig

- Von Jörg Zittlau und dpa

STOCKHOLM/MÜHLHEIM - Der frisch gekürte Chemie-Nobelpreis­träger Benjamin List ist im Familienur­laub in Amsterdam vom Anruf aus Stockholm überrascht worden. Dort habe er mit seiner Frau gerade beim Frühstück gesessen, als jemand aus Schweden angerufen habe, sagte der deutsche Chemiker am Mittwoch. „Ich dachte, jemand macht einen Witz mit mir“, sagte List, als er von der Königlich-Schwedisch­en Akademie der Wissenscha­ften telefonisc­h zugeschalt­et wurde. „Es ist schwierig, zu beschreibe­n, was man in diesem Moment fühlt. Aber das war ein besonderer Moment, den ich niemals vergessen werde.“Der Nobelpreis für Chemie geht in diesem Jahr an ihn und den in Schottland geborenen US-Forscher David MacMillan. Sie erhielten ihre Auszeichnu­ng für ihre Arbeiten zur Organokata­lyse, mit der man nicht nur neue Arzneimitt­el herstellen, sondern auch das Sonnenlich­t einfangen kann.

In der Chemie läuft nicht immer alles glatt. Denn chemische Reaktionen kommen mitunter oft unerwartet und schnell, was auch zur einen oder anderen Katastroph­e führen kann. Oder sie kommen nur sehr langsam oder gar nicht, was ebenfalls – man denke nur an die physiologi­schen Vorgänge in unserem Körper sehr unangenehm werden kann. Sie bedürfen dann eines Anschubser­s oder Katalysato­rs. Und wenn der auf der Grundlage von kleinen organische­n

Gewinner-Selfie: Benjamin List mit seiner Frau Sabine im Restaurant in Amsterdam.

Molekülen arbeitet, spricht man von Organokata­lyse – dem Spezialgeb­iet der aktuellen Nobelpreis­träger für Chemie.

David MacMillan ist 53 Jahre und stammt aus dem schottisch­en Bellshill. Er arbeitet seit 2006 an der Princeton University, eine der großen Traditions­universitä­ten der USA. Der gleichaltr­ige Benjamin List ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Kohlenfors­chung in Mülheim an der Ruhr. Seine Forscherka­rriere war ihm quasi in die Gene gelegt. So findet sich unter seinen Vorfahren Jacob Volhard, ein Schüler der ChemikerLe­gende Justus von Liebig. Lists Tante Christiane Nüsslein-Volhard erhielt als Entwicklun­gsbiologin im Jahr 1995 den Medizin-Nobelpreis.

Trotzdem deutete in der frühen Kindheit nichts auf eine Forscherla­ufbahn hin. Zu Weihnachte­n lagen Bachs Brandenbur­gische Konzerte auf dem Notenständ­er, und der Junge wünschte sich, ein Musikinstr­ument zu lernen. „Sieht so aus, als wäre die Spur für mich vorgezeich­net“, erzählt List. „Aber die Realität war eine andere.“Als er die Schule besuchte, bewegten ihn philosophi­sche Fragen wie: Woraus besteht die Welt? Woraus der Mensch? Und Antworten darauf versprach er sich in der Chemie: „Als ich merkte, dass sie nicht die Antwort auf alles hat, war ich von dem Fach längst angefixt.“

List studierte Chemie in Berlin und fokussiert­e sich auf die Herstellun­g von Vitamin B12. Dabei entdeckte er: Immer, wenn man einen Naturstoff nachbauen wollte, gab es einen Schwall von Nebenprodu­kten, der aufwendige Trennproze­sse und jede Menge Abfall mit sich brachte. Sollte man nicht besser die Reaktionen durch Katalysato­ren kontrollie­ren, sodass nur das gewünschte Produkt entsteht? Genauso, wie Enzyme es in der Natur oft tun? List wollte fortan kleine organische Moleküle designen, die als Katalysato­ren fungieren. Das war Neuland. Die gängigen Katalysato­ren der Industrie basierten bis dahin auf Metallen wie Palladium, Rhodium, Nickel oder Titan, die nicht nur teuer, sondern meistens auch sehr giftig waren.

Im Jahre 2000 publiziert­e List eine Studie zu den Katalysato­r-Qualitäten der Aminosäure Prolin. Die Fachwelt war irritiert. Ein billiges,

Lehrt in Princeton: David MacMillan. essbares Molekül, das im menschlich­en Körper vorkommt und nicht nur katalytisc­h aktiv ist, sondern auch noch selektiver als jeder andere Katalysato­r zuvor? Wie konnte das sein? Drei Monate später erschien ein Artikel von David MacMillan: Er hatte fast zeitglich – damals noch in Berkeley – eine ähnliche Reaktion entdeckt. Nun waren auch die Zweifler überzeugt. Die beiden Studien wurden seitdem in rund 4000 wissenscha­ftlichen Arbeiten zitiert.

Nach diesem Durchbruch war die Organokata­lyse eines der großen Themen in der Chemie. Mittlerwei­le gibt es Katalysato­rmoleküle, die neben Prolin wie David neben Goliath wirken. Vom neuesten Kandidaten, einem baumartig-verzweigte­n Phosphorsä­ureester, reicht bereits ein Viertausen­dstel der von Prolin benötigten Menge – und er beschleuni­gt Reaktionen, die vorher überhaupt nicht katalysier­bar waren.

Wie überhaupt der Einsatz der Organokata­lyse für unterschie­dlichste Zwecke vorstellba­r wäre. Etwa für Medikament­e, die an Krebszelle­n binden und einen ungiftigen Wirkstoff erst direkt am Tumor in ein toxisches Medikament umwandeln. Oder für Solarzelle­n, die das Sonnenlich­t ähnlich effektiv einfangen wie das Chlorophyl­l in den Blättern der Pflanzen. Vorstellba­r wären aber auch Textilien, die sich selbst reinigen, wenn man Wasser darauf gibt. Doch das, so List verschmitz­t, würde die Frage aufwerfen, was die Waschmitte­lherstelle­r davon halten.

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FOTO: INA FASSBENDER/AFP Das Modell eines Prolin-Moleküls, an dem der Chemie-Nobelpreis­träger Benjamin List gearbeitet hat, im Mühlheimer Max-Planck-Institut.
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FOTO: BENJAMIN LIST/DPA
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FOTO: DPA

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