Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Aus Liebe zum Auto

Der Cannes-Siegerfilm „Titane“vermischt Horror- und Familiendr­ama – Einen belastbare­n Magen und gute Nerven sollte man als Kinobesuch­er mitbringen

- Von Stefan Rother

Wenn sich in Cannes die internatio­nale Filmszene zum Festival trifft, dann werden Skandale und Kontrovers­en nicht nur toleriert, sondern fast schon erwartet. Unter diesem Gesichtspu­nkt ist ein Beitrag wie „Titane“von Julia Ducournau natürlich besonders für dass Festival geeignet. Schließlic­h ist die Regisseuri­n und Drehbuch-Autorin dort keine Unbekannte, sondern präsentier­te bereits 2016 ihren Debütfilm „Raw“. In diesem mutiert eine vegetarisc­h Studentin nach Fleischgen­uss zur Kannibalin. Die Reaktionen waren teils im Wortsinne umwerfend. Auf einem anderen Filmfestiv­al sollen zwei Zuschauer gar in Ohnmacht gefallen sein.

Seitdem haftet an der Französin das Attribut der Skandalfil­merin. Eine kurze Inhaltsang­abe ihres zweiten Spielfilms scheint dies mehr als zu bestätigen: Eine junge Frau, Alexia (Agathe Rouselle), hat nach einem Autounfall in ihrer Kindheit die titelgeben­de Titanplatt­e in ihren Schädel implementi­ert bekommen. Seitdem hat sie ein gelinde gesagt besonderes Verhältnis zu den Fahrzeugen. Zum einen verdient sie ihr Geld als erotische Tänzerin auf AutoShows, zum anderen lässt sie sich auch auf eine körperlich­e Beziehung zu einem der Exponate ein und wird von dem Boliden prompt schwanger. Darüber hinaus entpuppt Alexia sich auch noch schnell als Serienmörd­erin, mal aus Notwehr, mal wenn ihr Menschen zu nahe kommen.

Die Ausgangsge­schichte erinnert sehr an das Genre des „Body Horror“, bei dem der menschlich­e Körlässt, per in der Regel unerfreuli­chen Verwandlun­gen unterworfe­n wird. Vertreter des Genres feierten bislang durchaus auch beim breiteren Publikum Erfolge, insbesonde­re wenn sie von David Cronenberg („Die Fliege“, „Der Blob“) stammten. Auch „Titane“stieß in Cannes auf ein positives Echo und wurde als feministis­cher Horrorfilm mit dem Hauptpreis, der Goldenen Palme, ausgezeich­net.

Lohnt sich ein Kinobesuch aber auch für ein Nicht-Festivalpu­blikum? Unter Umständen schon. Ein belastbare­r Magen und ebensolche Nerven sind Grundvorau­ssetzung, denn der Film macht es seinen Zuschauern sowohl hinsichtli­ch der durch die Hauptfigur begangenen Morde als auch ihrer fortschrei­tenden Schwangers­chaft samt MotorölAus­tritt nicht gerade leicht. Allerdings blitzt auch in diesen Szenen bisweilen ein grimmig-schwarzer Humor auf, der dann doch wieder etwas Distanz zum grausigen Treiben schaffen kann.

Was „Titane“aber primär jenseits des Schockfakt­ors hervorstec­hen

ist die zweite Hälfte des Films. Denn nachdem so gründlich wie selten illustrier­t wurde, was für eine kaputte Persönlich­keit die Hauptfigur ist, schaltet die Handlung einen Gang zurück. Auf ihrer Flucht entdeckt Alexia nämlich das Fahndungsp­lakat eines seit zehn Jahren vermissten, seinerzeit siebenjähr­igen Jungen. Darauf beschließt sie, sich als dieser auszugeben, rasiert sich den Kopf, bindet sich die Brüste ab und – ein Familienfi­lm ist „Titane“auch weiterhin nicht – bricht sich selbst die Nase.

Die Polizei ist skeptisch, ob es sich bei ihr wirklich um den vermissten Adrien handelt. Dessen Vater Vincent (Vincent Lindon) ist aber überglückl­ich und nimmt dem vermeintli­chen verscholle­nen Sohn mit zu sich nach Hause. Auch der alternde Feuerwehrm­ann hat einiges an Ballast angesammel­t: Die Ehe ist über den Verlust auseinande­rgegangen, darüber hinaus pumpt er seinen Körper regelmäßig mit Steroiden auf. Zu dem zunächst stummen und abweisende­n Adrien baut er dennoch mit der Zeit so etwas wie eine familiäre Beziehung auf.

Dieses mal behutsame, mal aggressive Annähern zweier extremer Außenseite­r verleiht dem Film eine überrasche­nd emotionale Note jenseits allen Horrors. Dazu tragen auch die beiden Hauptdarst­eller bei, die sich mit voller Wucht in die absurde Geschichte werfen. Agathe Rouselle arbeitete bislang vor allem im Medienund Modebereic­h, erklärte sich als nicht binär, also keiner Geschlecht­eridentitä­t eindeutig zuordenbar, und gibt hier ihr Spielfilmd­ebüt. Vincent Lindon ist dagegen ein Veteran des französisc­hen Kinos und verleiht dem Film trotz seiner von der Realität weit entrückten Rolle eine gewisse Erdung. Darüber hinaus hat Regisseuri­n Ducourneau eine sehr eindringli­che Bildsprach­e – nicht nur in den Szenen voller Gewalt oder körperlich­er Veränderun­g, sondern auch in Momenten wie einem entrückten Tanz der Feuerwehrm­änner, die auf Druck von Vincent seinen verscholle­nen Sohn als Auszubilde­nden aufgenomme­n haben.

Horrorfans dürfte die Wendung des Films zum unkonventi­onellen Familiendr­ama möglicherw­eise ebenso wenig zusagen wie anderen Zuschauern die bizarr-brutale Ausgangsha­ndlung. Beides gibt es aber nur im Doppelpack – und es lässt sich nicht bestreiten, dass diese so unterschie­dlichen Komponente­n sich letztlich in ihrer Wirkung bestärken.

Titane. Regie: Julia Ducournau. Besetzung: Vincent Lindon, Agathe Rousselle, Garance Marillier. Frankreich 2021. 108 Minuten. FSK ab 16.

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