Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Deutsche Exportwirtschaft verliert an Schwung
WIESBADEN (dpa) - Die Folgen des Materialmangels erreichen die deutsche Exportwirtschaft. Erstmals seit Mai 2020 lieferten die Unternehmen weniger ins Ausland als in einem Vormonat. Nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes sanken die Warenausfuhren im August gegenüber dem Vormonat kalenderund saisonbereinigt um 1,2 Prozent. Allerdings lagen die Exporte immer noch über dem Vorkrisenniveau von Februar 2020. „Dies ist angesichts des nach wie vor schwierigen Umfelds besonders bemerkenswert“, sagte der neue Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Dirk Jandura.
„Steigende Frachtpreise und ein Mangel an Containern erschweren das internationale Geschäft und lassen die Preise für alle Marktakteure in die Höhe steigen“, beschrieb Jandura die aktuelle Lage. Zugleich mache den Unternehmen die Rohstoffknappheit zu schaffen. Der Industrieverband BDI rechnet mit einem schwierigen Herbst für die deutsche Wirtschaft. „Probleme in globalen Lieferketten, hohe Logistikkosten und ungeklärte Handelsstreitigkeiten verdunkeln den Konjunkturhimmel und haben in der Folge massive Auswirkungen auf die Exporte“, sagte Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).
Die Unternehmen in Deutschland sitzen zwar auf guten gefüllten Auftragsbüchern, können diese aber wegen Materialmangels teilweise nicht abarbeiten. Staus an Häfen und fehlende Containerkapazitäten behindern die Exporte zudem. Die Industrieproduktion war im August gegenüber dem Vormonat bereits deutlich um 4,0 Prozent gesunken. Es war der stärkste Rückgang seit dem Einbruch während der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020.
LONDON - Wer in Großbritannien tanken will, muss oft lange Schlange stehen oder teilweise erfolglos wieder umkehren. Seit zwei Wochen erschüttert eine Benzinkrise Großbritannien. Wegen fehlender Lastwagenfahrer erreicht das Benzin die Tankstellen nicht, staut sich daher in Häfen und Raffinerien. Auch bei anderen Produkten gibt es Engpässe. Opposition und Fachleute in Großbritannien machten den Brexit als eine der Hauptursachen aus. Premierminister Boris Johnson hingegen lastet die Probleme der heimischen Wirtschaft an: Diese habe sich zu sehr auf billige Arbeitskräfte aus der EU gestützt. Sein Land sei nach einer Phase von „Belastungen und Anstrengungen“auf dem Weg, das „kaputte Wirtschaftsmodell mit niedrigen Löhnen, niedrigem Wachstum und niedriger Produktivität“hinter sich zu lassen. Ein Überblick.
Ist die Benzinkrise überwunden?
Die Lage hat sich deutlich entspannt. Schon zu Monatsbeginn war die erste Phase der Panik überwunden, als in manchen Regionen des Landes 90 Prozent der rund 8500 Tankstellen ohne Kraftstoff blieben und an den noch geöffneten Zapfsäulen gelegentlich Prügeleien um einige Liter Benzin ausbrachen. Der Verkauf von Benzinkanistern schnellte um 1600 Prozent in die Höhe.
Während am vergangenen Wochenende im Großraum London weiterhin Knappheit herrschte, bestand in den mittel- und nordenglischen Metropolen Birmingham, Sheffield und Manchester kein Mangel. Im Südosten des Landes haben zuletzt 150 Soldaten Tanklastzüge chauffiert; am Freitag gab es nach Auskunft des Tankstellen-Verbandes noch bei 16 Prozent der Mitglieder Fehlbestand.
Welche Engpässe gibt es aktuell? Der Notfallplan der Mineralölfirma BP, dessen Veröffentlichung die Krise auslöste, sagt mindestens übergangsweise Engpässe auch für die nächsten Monate vorher. Hauptursache ist der Mangel an qualifizierten Lastkraftfahrern: Zur Aufrechterhaltung der Versorgung der Brexit-Insel sind Schätzungen des Branchenverbandes RHA zufolge rund 600 000 Lkw-Fahrer nötig, derzeit aber nur eine halbe Million im Einsatz. Dementsprechend klagen auch andere Branchen schon seit Wochen über Schwierigkeiten. In den Supermarktregalen fehlen mal Fertiggerichte, mal frisches Gemüse wie Gurken, gelegentlich sogar Heftpflaster und haltbare Pasta.
Der Geflügelzüchterverband warnte davor, zu Weihnachten könnten die hochbegehrten Truthähne knapp werden. Prompt meldeten Supermärkte wie Tesco, Aldi und Iceland einen Run auf tiefgefrorene Vögel. Bei Waitrose haben schon jetzt doppelt so viele Kunden eine Lebensmittellieferung für die zweite Dezemberhälfte gebucht wie in normalen Jahren.
Worauf sind die Schwierigkeiten zurückzuführen?
In der Covid-Pandemie, als die Nachfrage zeitweilig zusammenbrach, haben viele ältere Lastkraftfahrer ihren anstrengenden und schlecht bezahlten Beruf verlassen. Der harte Brexit tat ein Übriges: 40Tonnerpiloten vom Kontinent sehen sich seit Jahresbeginn mit erheblichen bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die vielfältigen Zollvorschriften und Gebühren machen manche Touren nicht mehr lukrativ genug.
Die Lkw-Lobby RHA lag dem Verkehrsministerium seit Monaten mit Vorschlägen zur Linderung der Krise in den Ohren: eine größere Anzahl von Arbeitsvisa für EU-Bürger; mehr Personal für die Führerscheinbehörde, um rasch die in der Pandemie verschobenen Prüfungen junger Anwärter nachzuholen; schließlich ein Appell an qualifizierte Kraftfahrer, die aus Alters- oder anderen Gründen den Beruf verlassen hatten, mindestens übergangsweise auszuhelfen.
Monatelang geschah nichts. Erst als sich die Situation Ende vergangenen Monats zuspitzte, befolgte das Ministerium die Vorschläge des Fachverbands, allerdings mit begrenztem Erfolg. Für Heiterkeit sorgte vor allem die Vorstellung, Tausende auf der Insel lebende Deutsche könnten sich ans Steuer von 7,5-Tonnern setzen, wie es der Führerschein der Klasse 3 bis Ende 1998 erlaubte. „Schöne Idee“, teilte einer der Angeschriebenen auf Twitter mit, „aber ich bleibe doch lieber in meinem Job als Investmentbanker“.
Auch in anderen Branchen suchen Unternehmer händeringend nach qualifiziertem Personal. Wenigstens übergangsweise müsse die Regierung mehr Arbeitsvisa an EUBürger ausgeben, forderten vergangene Woche prominente Restaurantund Hotelchefs. Kommt nicht infrage, antwortete Brexit-Vormann Boris Johnson: Allzu lang hätten Unternehmen auf billige Arbeitskräfte vom Kontinent gesetzt, ja, sie seien geradezu süchtig danach. Mit diesem „kaputten Wirtschaftsmodell“müsse nun Schluss sein. Wenn die Firmen höhere Löhne zahlen würden, werde der Mangel rasch ein Ende haben, so der Premier.
Was halten Praktiker und Fachleute von Johnsons Thesen? Gegen Johnsons Vorwürfe wandte sich der Chef der Bekleidungskette Next: Er rede keineswegs „unbegrenzter Einwanderung“das Wort, sagte Lord Simon Wolfson der BBC. Iceland-Chef Richard Walker warnte den Premier davor, die Wirtschaft als „Watschenmann“zu missbrauchen. Das Duo gehört zur kleinen Minderheit von Geschäftsleuten, die beim EU-Referendum 2016 für den Brexit warben. Damit fällt Johnsons Lieblingsargument unter den Tisch: Kritiker der Regierung seien ausschließlich jene EU-Freunde, die mit dem Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion unversöhnt bleiben.
Unter Ökonomen gilt seit Jahrzehnten mangelnde berufliche Ausbildung und Produktivität als Hauptübel der britischen Volkswirtschaft. Bei der Produktivität hinkt das Königreich seit Jahren hinter den USA, Deutschland und Frankreich – allesamt Länder mit hoher Einwanderung – hinterher, liegt hingegen deutlich vor Japan mit seiner weitgehend homogenen Bevölkerung. Immigration und Produktivität hängen also nicht ursächlich zusammen.
Torsten Bell von der Resolution Foundation mahnt eine Regierungsstrategie für die Wirtschaft des Landes an: Die Reduzierung der Einwanderung könne höchstens ein kleiner Teil davon sein. Noch deutlicher positioniert sich Ökonomieprofessor Alan Manning von der London School of Economics (LSE). Die Probleme der britischen Wirtschaft hätten mit der Migration nur zu einem ganz kleinen Teil zu tun: „Solche flotten Sprüche helfen niemandem weiter.“Das mag in der Ökonomie stimmen, trifft auf den Politiker Johnson hingegen weniger zu.
Welchen politischen Nutzen verspricht sich der Premierminister? Andere für eine krisenhafte Situation verantwortlich zu machen lenkt von eigenen Versäumnissen ab. Die Benzin-Panikkäufe waren nicht zuletzt Folge der weit verbreiteten Zweifel an der Krisenkompetenz der Regierung.
Dass Johnson beim Stichwort Brexit allergisch reagiert, geht auf seine Erfahrung bei der jahrelangen Debatte über den harten oder weichen EU-Austritt zurück. Prominente Manager und Firmenchefs positionierten sich 2016 ganz überwiegend für den EU-Verbleib, argumentierten später für Großbritanniens Verbleib wenigstens im Binnenmarkt. War er als Londoner Bürgermeister noch als Propagandist der heimischen Unternehmen, nicht zuletzt der Finanzbranche, aufgetreten, ließ sich der zunehmend populistisch auftretende Politiker plötzlich zur Bemerkung „Fuck Business“(etwa: ‚Scheiß‘ auf die Wirtschaft‘) hinreißen. Damit repräsentiert er viele seiner Anhänger. Das BrexitVotum basierte nicht zuletzt auf dem Gefühl vieler Menschen aus den abgehängten Regionen des Landes, Londons Wirtschafts- und Politikelite nehme ihre Interessen nicht wahr.